Samuel Salzborn: "Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne"

mit Bezug zu: Jean Améry, Jean-Paul Sartre, Moishe Postone, IHRA: Definition 2016 (Analysen), New York: Alfred A. Knopf (Sigmund Freud), Berlin / Teetz / Leipzig: Hentrich & Hentrich, Grenzbegriffe "Indien", "Orient" (Laktanz, Cicero), "Nominalismusproblem", Berlin: Merve (Theodor W. Adorno: "Psychoanalyse und Soziologie. Zwei Aufsätze", 1971), Marburg (Gnosis), Hamburg: MaD → Hamburg: Artikel 19 (Salman Rushdie: "Die satanischen Verse", 1989)

 

Samuel Salzborn: "Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich", Frankfurt am Main / New York: Campus 2010, S. 332f.

 

"'[...] Und endlich das späteste Motiv dieser Reihe, man sollte nicht vergessen, daß alle diese Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun, erst in späthistorischens Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang dazu getrieben. Ma könnte sagen, sie sind alle ›schlecht getauft‹, unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrungene Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam.' (Freud 1939*: 197f.).

Der jüdische Monotheismus hat im Unterschied zu prägenital gefärbten heidnischen Religionen, die aus schützenden, vor allem mütterlichen Gott heiten bestanden, durch die Besetzung des Vaters als Objekt die Religion verfinstert und ihrer mütterlichen Wärme beraubt. Die stärkere Einbeziehung des mütterlichen Elements wiederum im Christentum, in dem der Sohn die Mutter wieder gefunden hat, hat schließlich zur Entfachung eines jüdisch-christlichen Konflikts im Unbewussten geführt. Andreas Peham (2004**: 5) hat das jüdisch-christliche Verhältnis aus theologisch-psychoanalytischer Perspektive zusammengefasst:

'Die Entwicklung zum Monotheismus, zur Vorstellung einer einzigen, abstrakten Gottes, der als Vater-Imago liebende und strafende Anteile in sich vereint, list sich in Analogie zur Ontogenese auch begreifen als ›Entwicklung von der einge schränkten Wahrnehmung von Partialobjekten hin zur Fähigkeit der Wahrnehmung des ganzheitlichen Objekts. Nun besteht keine Notwendigkeit mehr, die aggressiv-destruktiven Anteile abzuspalten und nach außen zu projizieren (paranoid-schizoide Position). Vielmehr werden diese Anteile integriert, die widersprüchlichen Gefühle an einem inneren Objekt, das auch böse sein und gehasst werden kann, erfahren. Der Preis für diese Entdämonisierung der äußeren Welt ist der Ambivalenzkonflikt (depressive Position). Auf der Ebene der Gottesvorstellung bedeutet die christliche Etablierung einer vollkommen guten und liebenden Imago, welche der narzisstischen Ur-Mutter entspricht, die Rückkehr der Notwendigkeit zur Abspaltung und Projektion. Der Antisemitismus erscheint nut überdeterminiert: Einerseits erweist er sich als ein Hass auf jene, die am Ritual der Entlastung aus der paranoid-schizoiden Position nicht teilnehmen, denn sie werden als Bedrohung wahrgenommen, die an dem Sinn dieser Entlastung Zweifel entstehen lassen. Andererseits ist er Projektion jener negativen oder analen Anteile, die nicht integriert werden können. Mit dem christlichen Gott betrat der jüdische Teufel die Weltbühne, der Narzissmus der Reinheit ist nur zu haben mit der Projektion des Unreinen, der Analität.'

Das Christentum, das sich quasi als junges Geschwister des Judentums ebenfalls eine monotheistische Weltauffassung gab, hat die einschneidende narzisstische Kränkung durch das Judentum - das dem Menschen die Illusion genommen hatte, Gott sein zu können (vgl. Grunberger/Dessuant 1997***: 262 u. 300) - nicht reflektiert, wobei Antisemit(inn)en sich nicht mit dem strengen Gesetz, das nach der (symbolischen) Ermordung des Ur-Vaters angenommen wurde, identifizieren, sondern mit dem Vater selbst; sie haben nicht die abstrakte, strenge Gleichheit verinnerlicht, sondern die konkrete Macht und die mit dieser verbundene autoritäre Willküroption".

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques ]

* Sigmund Freud: "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", Amsterdam: De Lange 1939. Der Religionswissenschaftler und Ägyptologe Jan Assmann schreibt die Gewalt dem Monotheismus selbst zu, nicht dem Ressentiment ihm gegenüber im Medium eines regressiv radikalisierten Dualismus ("Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur", München: Hanser 1998; "Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus", München: Hanser 2003; "Exodus. Die Revolution der Alten Welt", München: Beck 2015). Dabei muss aber die Entstehung des jüdischen Monotheismus in einen stärker reduktionistischen Vergleich gebracht werden mit der henotheistischen Zuspitzung ägyptischer Religion unter Echnaton bzw. Amenhotep IV. im monolatrischen Aton-Kult, auch stärker als bei der bzw. gegen die Darstellung durch Freud. Assmann hofft auf einen in Spuren der Hermetik überdauernden westlichen "Polytheismus" - ähnlich ausgestaltet wie bei dem "fröhliche Wissenschaft" betreibenden "Zarathustra" im Werk Friedrich Nietzsches ("Die fröhliche Wissenschaft", Chemnitz: Schmeitzner 1882; "Also sprach Zarathustra", Chemnitz: Schmeitzner 1883-1891). Nietzsches "Zarathustra" "will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch" (Band 1, deutschestextarchiv.de, S. 20).

Die Perspektive der Verfolgung bzw. eine Theorie des Antisemitismus fallen bei Jan Assmann weg. Seine Frau Aleida Assmann, die zu Erinnerungskultur publiziert (z.B. mit Geoffrey Hartman: "Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust", Konstanz: Konstanz University Press 2012), verteidigt nicht nur Achille Mbembe im sogenannten "neuen Historikerstreit", in der Berliner Zeitung, "Gegen ein Klima des Verdachts", 03.05.2020, sondern gehörte zur Steuerungsgruppe der im März 2021 veröffentlichten "Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus", die Antizionismus bzw. Israelkritik nicht generell als antisemitisch verstanden wissen möchte und gegen die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance von 2016 formuliert wurde. Petitionen zum Thema zeichnete das Paar oftmals gemeinsam. 2020 veröffentlichte Aleida Assmann auch "Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen", München: Beck (s.a. Artikel "European Graduate School").****

Abb. rechts: Hieroglype "Aton" / "Jtn" / "(Die) Sonnenscheibe".

** Andreas Peham: "Die Protokolle der Weisen vom Pentagon. Zum rechtsextremen Flügel der jüngsten Anti-Kriegsbewegung", in: "Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie?", hrsg. von Mary Kreutzer und Thomas Schmidinger, Freiburg im Breisgau: Ça Ira 2004, S. 271-281.

*** Béla Grunberger et Pierre Dessuant: "Narcissisme, christianisme, antisémitisme. Étude psychanalytique", Arles: Actes Sud 1997. "Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung", aus dem Franz. von Max Looser, Stuttgart: Klett-Cotta 2000.

**** Die Idee einer Aufhebung der alten polytheistischen "Religion" durch die Einführung des jüdischen Monotheismus und demgegenüber die Interpretation von Christentum (Gnosis, Islam) nicht nur als eine Art "kulturelle Aneignung", sondern als Ausdruck eines Ressentiments gegenüber dieser neuen - aufgeklärteren - Wirklichkeit des jüdischen Monotheismus, als eine Art "schiefer" Universalismus, insofern ihm das Ressentiment als Motivans einer Gegen-Offenbarung eingeschrieben ist, dieses beides spiegelt sich in den innerhalb der Religionswissenschaft konkurrierenden Etymologien ihres Grundbegriffs:

Cicero, "De natura deorum", 2,71-72: "Diejenigen aber, die alles, was zur Verehrung der Götter gehört, sorgfältig wieder behandelten und gleichsam wieder überdachten [relegerent], die wurden vom Erwägen ['Wiederlesen', ex relegendo] religiös genannt, wie die Geschmackvollen vom Auswählen, vom Hochachten die Sorgfältigen, vom Verstehen die Verständigen. In allen diesen Wörtern nämlich steckt dieselbe Bedeutung des Auslesen [legendi] wie in religiös".

Dagegen Laktanz (ca. 250-320), "Divinae institutiones", 4,28: "Wir werden nämlich unter der Bedingung geboren, dass wir Gott, der uns erzeugt, den gerechten und geschuldeten Gehorsam leisten, ihn allein kennen, ihm folgen. Durch dieses Band der Frömmigkeit sind wir Gott verpflichtet und gebunden ['Rückbindung', religati]; woher auch die Religion ihren Namen erhalten hat, nicht wie Cicero es erklärt hat vom Wieder-Erwägen, welcher im zweiten Buch über das Wesen der Götter folgendermaßen gesagt hat: [...]".

Die Purim-Geschichte um Haman zeigt die Logik des Ressentiments gegenüber dem jüdischen Monotheismus: "Die Geschichte spielt im persischen Reich der Antike. Haman, ein hoher Regierungsbeamter des Königs, ist erbost über die Juden des Reichs. Denn sie wollen nur Gott anbeten und vor niemand anders niederknien, auch nicht vor dem König. Haman will deshalb sämtliche Juden des Reiches umbringen lassen" (Gerald Beyrolt: "Das jüdische Fest Purim", deutschlandfunk.de, 20.03.2019). Bei Laktanz wird aber aus dem "Bund mit Gott" die "Rückbindung" über ein "Band der Frömmigkeit". Die moralische Aufteilung in Gut und Böse wird mit der Idee des Monotheismus verschmolzen, und damit ähnlich der Gnosis ein stark metaphysisch aufgeladener Dualismus begnüstigt, etwa Vorstellungen wie die Unterscheidungen des Augustinus in "civitas diaboli", "civitas Dei" ("Staat des Teufels", "Staat Gottes"). Dieser Art Monotheismus ist ein Gegen-Gott inhärent. Demgegenüber gilt für das Gottesbild in der Purim-Geschichte, "dass es nur einen Gott gibt und dass in Gott alle Eigenschaften zusammenkommen. Alle Gegensätze treffen sich in Gott und werden miteinander vereinigt. So steht geschrieben, dass für Gott das Licht und die Finsternis identisch sind (Psalm, 139,12). Prophet Esaja beschreibt Gott als Stifter des Friedens und Schöpfer des Kriegs (45,7). Im Talmud ist zu lesen, dass manche der bedeutendsten Rabbiner direkt vom bösen Haman abstammen (Sanhedrin, 96b). Vielleicht verkleiden wir uns deshalb auch an Purim: Um Gott, uns selbst und andere Menschen von unbekannter Seite kennenzulernen" (Baruch Rabinowitz: "Der gute Haman", Jüdische Allgemeine, 1.3.2007).

Abb. תערוכה לקראת פורים בהיכל שלמה בירושלים-רעשן עשוי עץ (Purim Exhibition at Heichal Shlomo in Jerusalem, "Rassel", "Purim Noise Maker", bei der Lesung der Ester-Rolle soll damit der Name Haman übertönt werden), von zeevweez, unter Creative-Commons-Lizenz CC BY 2.0 (modifiziert).

 

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