Hans B. Wagenseil: ["Was ist mit der deutschen Literatur? Antwort auf eine Umfrage"]. In: "Der Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller", München, Jg. 1, Heft 4/5, 1948, S. 14f.

mit Bezug zu: Hans B. Wagenseil

1. [Urteil über die dt. Literatur des letzten halben Jahrhunderts] Minderwertig ist die Neigung der deutschen Literatur, sich zweckbestimmen zu lassen. Sie weist keinen Weg mehr, sondern schreibt bestenfalls Rezepte, mit Hilfe deren man sich bei den gegebenen Umständen durchschlagen kann. Sie erkennt die Verhältnisse als unumstößlich an, kuscht vor ihnen, statt sie umzuschmeißen und ihnen eine neue Welt entgegenzustellen. Sie schaut nicht mehr vor, sondern berichtet. Es fehlt ihr die Begeisterung des dichterischen Gesichts.

Unheilvoll wird dieses Nachhinken und Wegbereiten, wenn es von oben her unterstützt und vorgespannt wird. In den Jahren der V[...] haben wir mit Schadenfreude beobachtet, wie dieser Mißbrauch sich letztendlich gegen die Geschirrmeister kehrte. Heute sehen wir bedenklich, ja zornig, ähnliches geschehen. Die Nachkriegsliteratur, insbesondere soweit sie sich mit der Zeit des Nazi-Regimes auseinanderzusetzen versucht, veranschaulicht deutlich, was ich meine. Wertvoll in diesem Sinne waren gezügelte, menschlich nicht unbeteiligte Standardwerke wie Kogons SS-Staat*, oder Darstellungen, mit denen die Verfasser sich und dem Leser eine Last vom Herzen schrieben. Solche Dammbrüche waren ein Reinigungsbad und zeitgeschichtlich berechtigt. Aber, wir haben keine Lust, bis zum Schnattern in diesem Bad sitzen zu bleiben und in der breit nachstürzenden trüben Flut bis zum Erbrechen zu plätschern. Denn sie droht nicht nur Werte mitzureißen, um deren Bewahrung in unserem Inneren wir alle diese Jahre hindurch bemüht waren, sondern hat sie bereits bei vielen so überfütterten Lesern in erschreckendem Maße mitgerissen, so daß sich die schwächeren Naturen zum erstenmal vor sich selbst in eine Verteidigungsstellung gedrängt finden. Das Unheil wurde angerichtet durch das im Vorhergehenden gebrandmarkte Wiederkäuen und Breittreten von Erlebnissen, die längst Gemeingut geworden und recht eigentlich überwunden waren, bis sie mit verdächtig nach Wohldienerei schmeckendem Eifer wieder ans Licht gezerrt und zu hämischem Homunkulusleben erweckt wurden. Billigen wir dem Fehler gerechter Weise die gute Absicht der Abschreckung und des Aufrufs zur Einkehr zu. Nicht aber entschuldigen läßt es sich, wenn ein angesehener Schriftsteller seine verhältnismäßig harmlosen KZ-Bedrängnisse in einem Schwanengesang zu klagen unternimmt. Blanke Gemeinheiten lassen sich nicht zu einem dichterischen Erlebnis umformen. So kam denn auch nichts anderes dabei heraus als larmoyante Selbstbemitleidung, die an anderen Geschehnissen gemessen den Leser so unberechtigt dünkt, daß sie statt teilnehmender Empörung achselzuckende Abkehr auslöst.

In welche Richtung also soll sich die deutsche Poesie und Prosa entwickeln? In die, in welche sie von der - und sei es auch unbeholfen stammelnden - Stimme der Leidenschaft gedrängt wird. Der Schreibende soll wieder ein Kämpfer sein gegenüber dem Leser, nicht sein Lieferant. Wenn schon der Herdentrieb obsiegen muß, dann sei er wenigstens ein Leithammel. Er wird sich freilich die Hörner rasch abstoßen an der Hürde der Papierknappheit. Mit ihr kann sich jeder Zeitschriften- oder Buchredakteur unwiderleglich entschuldigen, wenn er dem jungen Aufrührer Ecken und Kanten glattschleift, damit er "in den Rahmen paßt."

2. [Position zur Einführung eines Kultursenats] Selbstverständlich. Frankreich hat längst sein Kunstministerium. Aber bitte nicht wieder einen Schalterbeamten. Die jetzt in Bayern konstituierte zweite Kammer ist in so weiten Kreisen unbekannt, daß sie vermutlich in einem Museum tagt.

3. [Wertmaßstab für gute Literatur] Hier zelebriere ich erst einmal den wahrscheinlich von mir erwarteten Kotau, indem ich der Kontrollbehörde gerne alle die Werke des Schrifttums zu Füßen lege, um deren Austilgung willen sie hoffentlich da ist. Wenn diese Trompeter von Säckingen-Erzeugnisse wahrhaftig Herzen höher schlagen machen, dann gehöre ich zu den Säuen, denen man diese Perlen vergeblich vorwirft. Anders freilich verhält es sich - und jetzt darf ich doch hoffentlich wieder aufstehen? - wenn es sich um geistige Erzeugnisse handelt, deren Gefahr mehr mit dem Fingerspitzengefühl beurteilt wird. Hier - Sprung zurück in die sichere Deckung von Punkt 2 - erlaube ich mir den Hinweis, daß es wünschenswert wäre, eben die dort Berufenen zu Rate zu ziehen, damit ihre Verurteilungsbestätigung den Verdacht der lediglich andersrum Tendenz entkräftet. Beim Weiterlesen im Fragebogen stoße ich auf das Wort Führungsmethoden, und das Ungeheuer kommt mir so unliebsam bekannt vor, daß ich erst einmal Atem schöpfen muß. Dennoch entringt sich mir nach einigem Nachdenken ein: Warum nicht? Nur - nicht so. So geht's nicht. Denn die Führung hängt in der Luft, und was überbleibt ist die Methode. Es verhält sich ähnlich wie mit den in Deutschland erscheinenden amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften. Sie sind zweifellos gut, aber vollkommen aus dem Gesamtzusammenhang gelöst. Amerikanische Sonderunternehmen der Besatzungsbehörde. Wollen das auch die Führungsmethoden sein, dann geht uns der Verein, wenigstens was unsere Mitarbeit betrifft, nichts an. Andernfalls erkläre ich mit schöner Offenheit, daß wir - und ohne erst um ihre Ermächtigung bitten zu müssen weiß ich, daß ich vom Kopfnicken vieler Kollegen begleitet spreche, - nur dann zu dem irgendwo an der Stadtperipherie gelegenen Heerlager hinausfahren, wenn uns ein Muß zwingt, d. h. wir eine Genehmigung, Unterschrift, Material oder sonstige Zuteilung brauchen. Kein Mensch betritt freiwillig eine Dienststelle! Zumal wenn man es in der Geisteshaltung eines Bittstellers tun muß, als zweitrangiger Zivilist vor einen Uniformierten hintritt. Wenn also die Führungsmethoden eine Bereicherung, ein Lebendigmachen bisher böswillig verstopfter Quellen bedeuten sollen, dann laßt sie nicht nur feierlich amtlich wie Leitungswasser aus einem schlecht schließenden Hahn tröpfeln. -

Vgl. Friedhelm Kron: "Untersuchungen zum politischen Selbstverständnis deutscher Schriftstellerverbände (1842-1973)", Stuttgart: Metzler, 1976, S. 471 u. S. 437, Anm. 174.

Anmerkungen:

* Eugen Kogon: "Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager", München: Verlag Karl Alber 1946. Vgl. S. IX: "Die deutschen Konzentrationslager waren eine Welt für sich, ein Staat für sich - eine Ordnung ohne Recht, in die der Mensch geworfen wurde, der nun mit all seinen Tugenden und Lastern - mehr Lastern als Tugenden - um die nackte Existenz und das bloße Überdauern kämpfte. Gegen die SS allein? Beileibe nicht; genauso, ja noch mehr gegen seine eigenen Mitgefangenen! Das Ganze hinter den eisernen Gitterstangen einer terroristischen Disziplin ein Dschungel der Verwilderung, in den von außen hineingeschossen, aus dem zum Erhängen herausgeholt, in dem vergiftet, vergast, erschlagen, zu Tode gequält, um Leben, Einfluß und Macht intrigiert, um materielle Besserstellung gekämpft, geschwindelt und betrogen wurde, neue Klassen und Schichten sich bildeten, Prominente, Parvenüs und Parias innerhalb der Reihen der Sklaven, wo die Bewußtseinsinhalte sich wandelten, die sittlichen Wertmaßstäbe bis zum Zerbrechen sich bogen, Orgien begangen und Messen gefeiert, Treue gehalten, Liebe erwiesen und Haß gegeifert, kurzum die tragoedia humana in absonderlichster Weise exemplifiziert wurde."

Register der Überlieferung der Übersetzungen bis 1950
Personenregister (Übersetzungen etc.)
Adressregister
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