2011

mit Bezug zu: 2007, "lemma_zergeisterung.php"

 

"Im Prinzip Zergeisterung. Das andere Browsergame", in: "Der Götterbote", Mainz / Berlin, 6. Jahrgang, Nr. 1/2011, S. 14-17.

 

"Es war einmal die Zergeisterung. Angefangen hatte alles mit einem Treffen 2003/04 von S[...] A[...], A[...]-G[...] und T[...]. Damals gab es Facebook noch nicht*. Und auch Browsergames waren noch kein so verbreitetes Phänomen, von Plugins für 3D-Engines, mit denen hochqualitatives 3D möglich wäre, ganz zu schweigen. Die anfängliche Idee hatte damit zu tun, das Prinzip esoterischer Einweihungsgrade auf Computerspiele zu übertragen - bei einer gleichzeitig offenen Welt, d.h. sie folgt keiner eindeutigen Storyline, es gibt eigentlich kein Ziel des Spiels, nur immer weiter sich fortsetzenden Aufstieg. Das war ursprünglich nicht so deutlich, denn den Anfang machte der sogenannte Tarotweg, der auf ein bestimmtes Ziel hinzuführen schien**. Tatsächlich endet er mit dem siebten Grad, allerdings entscheidet sich der Spieler nach der vierten Prüfung, ob er den Weg des Magiers oder der Hohepriesterin gehen will. Entsprechend führt der gewählte Weg zur Sonne oder zum Mond. Stattdessen ergab es sich, dass die Spieler sich zusammentaten und das Spiel weiterentwickelten.

Doch der Reihe nach - das Spiel kombiniert Dungeon-Elemente mit Adventure und Rollenspiel. Manche Einzelrätsel, denen man in dem Labyrinth der Räume begegnen kann, können dabei einfache Wissens- oder Knobelaufgaben sein. Von Anfang an war das ganze System so gehalten, dass überall, wo etwas 'noch nicht definiert' wurde, der Spieler aktiv werden kann und die Lücke schließen mag: eigene Räume bauen, eigene Gegenstände darinnen platzieren etc. Durch die Spieler wurde das 'Inventar' der Räume allmählich um Pflanzen und Tiere ergänzt - letztere kann man sogar züchten, d.h. eigene Arten kreiieren, und 'intelligent' programmieren. Eine andere Eigenschaft des Systems ist die Selbstregulation. Bereits die Prüfungen zur Herrscherin (Grad 4) oder zum Magier (Grad 5) erzwingen etwa die Reinigung des Systems von Karteileichen (Benutzer, die z.B. nur mal in den ersten Raum hineinschauten, aber die erste Prüfung nicht bestehen und auch kein zweites Mal wiederkehren). Diese werden zunächst vom Magier ver[zaubert], um dann als Untote zu spuken (Fremdsteuerung durch Computer). Schließlich können Herrscherinnen diese verdammten Seelen mit ihrem Zauberstab 'befreien'.

[...]

Auch durch die Spielerbeteiligung - zunächst wurde ein Parlament, später eine Gilde gegründet - wuchsen die Möglichkeiten der Gestaltung durch die Spieler, sei es, selbst gestaltete Grafik einbinden zu können, sei es die Möglichkeit, eigene Gegenstände einzubringen, sei es das faszinierende Phänomen, aus Bugs bzw. nichtgeplanten Programm-Effekten eigene Gestaltungswerkzeuge zu machen, sei es der Entwurf neuer Außen-, Unter- und Oberwelten oder einer vierten Dimension etc. Es gab zeitweise häufig das Phänomen, dass neue Spieler auftauchten und sich festbissen, tagelang nahezu 24 Stunden spielten. Soweit ihnen das möglich war.

[...]

Einige bissen sich also fest, wohnten regelrecht in dieser alternativen Community. Schon der Begriff Zergeisterung lud dazu ein. Einige träumten von den Labyrinthen des Spiels, andere inszenierten im Traum ein philosophisches Gespräch über eine Art okkulten Prozess namens Zergeisterung, der überall bereits begonnen habe.

[...]

Tatsächlich fanden sich schließlich auch noch weitere Zeugnisse der Verwendung von 'zergeistert' oder 'Zergeisterung' zurück bis ins 17. Jh., ob nun in einem barocken Schäferroman (Thomasius: 'Damon und Lisille oder Die gedoppelte Liebes=Flamme', 1669) als Ausdruck fürs Sterben, ob zur Mahnung an die Konzentration des Kirchgängers auf die Predigt (Leonhard Reil: 'Lehr-, Geist- und Eyfervolle Sonntags-Predigten', 1739), ob als 'psychologische' Methode der Charakteranalyse ('Versuch einer Menschenlehre', 1790 anonym zu Kempten gedruckt), ob als Abwertung eines scheinbar 'übertriebenen' Expressionismus (Friedrich Seibert: 'Expressionismus und seine Grenzen', 1921) oder als Ausdruck einer psychedelischen Erfahrung (Georg J[a]ppe: 'Nachschrift eines LSD-Rausches', 1963***).

[...]

Völlig überlastet war der Spielserver, als eines Tages die Zergeisterung durch das Internetfernsehen 'Ehrensenf' [2005-2011] empfohlen wurde. Es kamen über Nacht um die tausend Spieler. Mit einer Spielerin, die damals 'hängenblieb', wurde später ein besonderes Areal in der Zergeisterung geschaffen: das Projekt Asylos, welches den Weg eines Flüchtlings in die Festung Europa nachempfinden lässt [...].

[...]

Das Spiel kann auf jeden Fall eine eigene Erfahrungsdimension bieten, wenn man sich darauf einlässt. Als genau solch einen Mechanismus, der den menschlichen Geist 'umzuprogrammieren' suche, versuchte [Spieler] [...] einst die Zergeisterung zu 'entlarven'****. [...]".

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques ]

* Das gemeinschaftsbasierte Lexikonprojekt Wikipedia begann am 15. Januar 2001, Facebook startete am 4. Februar 2004, Twitter am 21. März 2006. Erst ab Dezember 2010 entstehen unter Verwendung digitaler Medien globale Bewegungen wie der arabische Frühling (2010/11), Black Lives Matter (seit 2013), #transisbeautiful (2015), #MeToo (2017) oder Fridays for Future (2018/2019).

** Vgl. "Der Diskurs um Weltuntergänge 2012. Kritische Anmerkungen zu Esoterik und Geschichtsphilosophie", in: "Zeitschrift für Anomalistik", Band 12, 2012, S. 75-94, insb. S. 88: "In 'Der Tod der Moderne. Eine Diskussion' ([Jean] Baudrillard, [Tübingen: Konkursbuch] 1983: 104) schrieb Jean Baudrillard noch vor Tschernobyl: 'Das wirkliche nukleare Ereignis wird nicht stattfinden, weil es schon stattgefunden hat'. [...] Die Geschichte eines jungen polnischen Aufbegehrenden [Artur Becker: 'Der Lippenstift meiner Mutter', Frankfurt/M.: weissbooks.w 2010] drückt als Lebensgefühl aus, was Baudrillard durch das Ende linearer Zeit- bzw. Geschichtsvorstellungen als Verschiebung der Grammatik des Weltuntergangs in der Moderne deutet".

S. 90: "[Francis] Fukuyuma ['The End of History and the Last Man', New York: Free Press 1992] und alle, welche die Linie brauchen, wären in Baudrillards Perspektive wie [der Sohn des Totengräbers...] im Roman Beckers, welche[r] noch nicht begriffen hatte, 'dass der Weltuntergang längst stattgefunden hat' - mehr noch, dass 'das Weltende im Grunde genommen jeden Tag von neuem anfing'. Dieses Verhalten ist eine (teilweise auch emotional geleitete) Reaktion auf das Ende der Geschichtsphilosophie (im herkömmlichen Sinn). Da es ohne ein Raster oder Schema kein Ereignis des Endes eines solchen Schemas geben kann, ist der Weltuntergang notwendig ein 'Nicht-Ereignis' - außerhalb der Erzählungen, in welche es gehört, bezugslos"*****.

S. 91: "Insofern ist es vielleicht gar nicht so unsinnig, das Nicht-Ereignis 'Weltuntergang' von einem antiken Kalendersystem abhängig zu machen, so dass es nahezu magisch gezwungen werden und sich auf keine Weise dem mechanischen Fortlaufen der Chronometer entziehen kann. Es wäre sozusagen eine Art überdimensionaler Flashmob, eine insgeheim getroffene Verabredung aller, die Welt untergehen zu lassen, dieses Jahr zur Wintersonnenwende - ein Ritual, um die im Unbewussten schlummernden Wünsche im Bewusstsein präsent zu machen und in die Tat umzusetzen".

*** "Bonn, 20. September 1963", "eine Art Libretto zum mehrdimensionalen Lesen":

"Glanz, ach] / die ist gar nicht rosa, die Tapete, sie ist ja, / ich höre mich getroffen aufschreien, zergeistert / und triumphierend funkelnd stürzt sich der Tonius auf / weiß!] / den Prowill alles sagen und jage mit dem Finger / albern da! da!] / in der Hand / tokollblock] / und die Lichtmasse kehrt ihren Schatten nach / dem Gestirn nach] umkreist mich einmal ganz und stürzt sich, / außen und es beginnt in zähen Teigströmen heftig zu schneien, jäh vor der Ecke, in der Tapete, schmerzhaft stehen die Augen ... Und plötzlich begreife ich. / Gerüste schöpfen Atem. Ich hatte eine Vision. Dieser blanke in starken Figuren. / Augenblick, das war die Vision? Alles andere war Bilderfolie. / zu sagen gehabt - / mit dem Schwung des großen Schattens an die / kommt's heraus - / nackte Wand geknallt, peng! in dir ist nichts drin".

Zitiert nach Gustav René Hocke: "Verzweiflung und Zuversicht. Zur Kunst und Literatur am Ende unseres Jahrhunderts", München: Piper 1974, S. 59f., mit der Einleitung "Zweitens: Erfahrung von vermeintlicher 'Unio mystica', die sich dann aber als Täuschung erweist".

S. 55: "Es ergibt sich, die nicht nur experimentiell genutzte Droge - als Verzweiflungs-Korrelat im Westen und Indolenz-Reaktion im Osten - führt in die Nacht-Seite der Gottheit, in banale Magie und in 'schwarze Mystik' und Moral. Der moderne Problematiker (extremer Art) entfaltet sich in geistigen Quantensprüngen nur noch egozentrischer Existenz. Er hat keine religiöse oder auch nur mythische, metaphysische Nabelschnur mehr. Er lebt 'von Fall zu Fall' im Zu-Fall".

**** "Der Shitstorm gegen die neue Vorsitzende der Grünen Jugend und die Strategien dahinter. Eine Analyse", de:hate & Belltower.News, 13. Okt. 2021, Kate Manne: "Down Girl. Die Logik der Misogynie", Frankfurt: Suhrkamp 2020 paraphrasierend:

"Historisch betrachtet ist jede öffentliche Sphäre eine männlich dominierte. Frauen und queere Menschen, die angestrebt haben, diese Sphäre zu betreten, sahen sich tragischerweise immer Gewalt und Anfeindungen ausgesetzt. Sie verlassen die ihnen zugeschriebene Rolle und fordern Sichtbarkeit und Teilhabe am öffentlichen, politischen Diskurs ein. Dies widerspricht, so Manne, den patriarchalen Anforderungen an Weiblichkeit und stellt für jenen Typ Mann eine Bedrohung dar, der in seiner fragilen Männlichkeit immer wieder die Abwertung des Nichtmännlichen - also Frauen und queere Menschen - reproduzieren muss, um sich als richtiger Mann fühlen zu können".

***** "Die Narration ist tot. Es lebe die Narration!", in: "Der Götterbote", Mainz / Berlin, 7. und letzter Jahrgang, Nr. 1/2012, S. 4-7.

S. 5: "In der nächsten Ecke dämmern die Krimis und Thriller. Der Ermittler kommt hinzu. Er bändigt die Triebe und bietet dem Drama-Trauma eine vermeintliche Lösung. Immer wieder stellt er - oft in Serie - die Ordnung wieder her. Und die Wirklichkeit. Er ist die mobile Variante des Wahrheitsministeriums. Auch er gehört in die Angstskala - irgendwo dazwischen. Er bändigt die Entropie. Das Seelische kommt mit dem Mitleid - oder mit einer Kamerabegleitung hinab ins Milieu. Kunstvolle Nebenschauplätze. Gerade dem Ermittler gilt der Rest des bürgerlichen 'Und wenn sie nicht gestorben sind...'. Auch Märchen sind Krimis, Thriller oder Horror. Solche Filme verrücken die Ordnung, um ihr nach ihrer Wiederherstellung am Ende noch mehr zu huldigen.

Ohne ein Video auszuleihen, verlässt der junge Mann mit der schwarzen Jacke das Gebäude. Klar, er hätte einen Science-Fiction ausleihen können, eines der Genres der Veränderung, der Mutation. Doch die Klassiker kannte er bereits alle und die neuen Angebote hatten ihr Sujet auf eine bloße Kulissenfärbung reduziert".

S. 7: "Schnellen Schrittes bewegte ich mich durch mehrere schummrige Seitengassen. Schließlich kam ich an einem Jugendstilbau zum Stehen, der ein Kaffeehaus in Wiener Art beherbergte. Schnaubend ging ich hinein, die Hände in den Taschen des Jackets gebäumt. Drinnen saß an einem Tisch eine Runde älterer Herrschaften, die Kaffee oder Tee mit Gebäck zu sich nahmen. Ein Mann mit Spitzbart, der genau gegenüber der Eingangstür saß, begann zu erstarren, als er meiner gewahr wurde. 'Herr Freud, es ist vorbei!'. Mein Bewusstsein hörte noch den doppelten Schuss, sah die Waffe aus der Hand des Spitzbärtigen fallen. Wir hatten uns gegenseitig tödlich getroffen".

 

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