2019

mit Bezug zu: 2007, 2011, 2013, "Quexit", 2020

 

"Wie viel Religion verträgt die Öffentlichkeit?", 30-Jahre-REMID-Feier & Podiumsdiskussion, in: Rundbrief des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes REMID e.V., 17. Jahrgang, Marburg, Nr. 1 / 2019, S. 1-4.

Abb. Graffiti "Neue Weltordnung / 666 = Illuminati / Satanist" am Bahnhof Stadtallendorf / Hessen (2016). "Rechte Ideologie im esoterischen und neureligiösen Bereich", in: Blog des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst REMID e.V., 23.06.2016: "Der oder die Künstler_innen haben ähnliche Graffiti im Umkreis angebracht, welche die Stichwörter IS, Vatikan, NATO, dritter Weltkrieg usf. ergänzen - neben dutzenden Gleichheitszeichen".

 

"Wir feiern heute das 30jährige Jubiläum von REMID, dem Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst, der 1989 in Marburg von wenigen Absolvent*innen der Religionswissenschaft gegründet worden war. In der Satzung heißt es zum Zweck des Vereins:

'Der Verein hat vornehmlich den Zweck, in der Öffentlichkeit das Wissen über Religionen und religiöse Bewegungen zu erweitern und zu vertiefen. Dieses geschieht von einem religionswissenschaftlichen Standpunkt aus: Religionswissenschaftlich arbeiten heißt, eine Religion oder religiöse Gemeinschaft empirisch und historisch-wissenschaftlich zu erforschen, Aussagen und Ergebnisse werden unabhängig von religiösen Anschauungen und Überzeugungen erstellt. Die so gewonnenen Erkenntnisse sind zu vermitteln und dadurch gesellschaftlich nutzbar zu machen, d. h., ein friedliches und tolerantes Zusammenleben der Menschen und der verschiedenen Religionen zu fördern und gegenseitiges Verstehen und Respektieren zu ermöglichen.'

Und heute sind wir hier versammelt unter einer Überschrift 'Wie viel Religion verträgt die Öffentlichkeit?' - Nun, wir sind mit dieser Überschrift ein Risiko eingegangen, falsch verstanden zu werden. Denn wir wollen solche Anfragen aus der Öffentlichkeit diskutieren. Wir stellen nicht selbst diese Anfrage. Diese Anfrage ist eindeutig normativ, d.h. sie wertet. Religion ist etwas scheinbar Negatives, unter dem man leiden kann. Noch mehr: Die Öffentlichkeit 'verträgt' etwas mehr oder weniger. Man verträgt z.B. keine Laktose, keine Milchprodukte.

Die Öffentlichkeit wird wie ein 'Körper' behandelt. In einer solchen Verwendungsweise wird sie wieder zu dem 'Volkskörper', dessen Gesundheit sicherzustellen sei. Es wird also eine Sprache gesprochen, die rechts anschlussfähig ist. Die tief in die Erinnerungen an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen führt. Darüber hinaus wird 'Religion' als ein Phänomen dargestellt, das in einer gewissen Weise homogen sei, mit sich selbst identisch, in seiner Wirkung immer kongruent, und muss im genannten Kontext als Sammelbegriff für eine bestimmte Gruppe Pathogene erscheinen. Im Grunde stellen solche Anfragen wie diese seit der Gründung REMIDs eine permanente Konstante dar. Und von Anfang an hatten sie ein grundlegendes Ungleichgewicht. Da gab es etwa im CDU-Informationsdienst 'Union in Deutschland' Nr. 38/1993 die Broschüre 'In-Sekten - nein danke!':

'Bereits seit längerem versuchen verschiedene Sekten, Wirtschaft, Wissenschaftsinstitutionen, Berufsverbände, Gewerkschaften und nicht zuletzt die Parteien zu unterwandern und für ihre Ziele zu instrumentalisieren [...] Gegen diese mögliche Infiltration von außen müssen wir uns entschieden wehren'.

Interessanterweise heißt es da aber auch:

'Die Pluralisierung der Lebensstile und die damit verbundene Entfremdung von den christlichen Kirchen hat dazu geführt, daß viele Menschen in Deutschland bereit sind, sich neuen religiösen oder psychoanalytischen Gruppen zu öffnen'.

Dieser letzte Satz könnte auch - vielleicht zwanzig Jahre später - in einer REMID-Publikation stehen, allerdings dann völlig deskriptiv gemeint und ohne Bewertung dieser 'Entfremdung', falls nicht eine andere Vokabel dafür gewählt würde. Hier bei der Broschüre von 1993 ist das aber als Umschreibung einer grundsätzlich negativ gesehenen Entwicklung gedacht gewesen. Und die wurde zudem als eine akteurszentrierte Verschwörungsmythe vorgestellt: 'Infiltration von außen' meinte seiner Zeit insbesondere die USA. Denn einige der damals als Bedrohung wahrgenommenen Neuen Religiösen Bewegungen stammten von dort -oder einige hinduistische Reformbewegungen nahmen den Umweg über Amerika, aufgrund von historischen Diaspora- bzw. Kolonialverhältnissen. Es ging um Hare Krishna, Osho / Bhagwan, Transzendentale Meditation, aber auch Scientology.

Die Gründungsgeneration von REMID hatte insbesondere zwei große Themen: Einerseits diese Debatte um die neuen religiösen Bewegungen, die in der Öffentlichen Debatte als 'Sektengefahr' verhandelt worden waren, und andererseits Diasporagemeinden der sogenannten 'Weltreligionen' in Deutschland bzw. Europa, insbesondere zunächst die Arbeiten von u.a. Martin Baumann zu tamilischen Hindus in Deutschland oder die Entwicklung der Deutschen Buddhistischen Union. Den von konservativer Seite kommenden Vorläufern späterer 'Leitkultur'-Debatten wurde begegnet mit einem neuen Paradigma religiöser Vielfalt vor Ort. Ein letztes Jahr im Handbuch der Religionen erschienener Aufsatz über die Geschichte und Entwicklung der REMID-Statistik zeigt die parallele Entwicklung auf, von lokaler Religionsforschung auf der einen und der bundesdeutschen Statistik auf der anderen Seite. Es ging eben gerade darum, alte Schemata in der Religionsstatistik aufzubrechen. Die entstehenden lokalen Beschreibungen der Vielfalt der Religionsgemeinschaften in einer Stadt, einem Landkreis oder Bundesland ermöglichten die heutige Breite von über 600 Einträgen in der religionswissenschaftlichen REMID-Statistik: die Bandbreite evangelikaler Freikirchen, christlicher Sondergemeinschaften, unabhängiger Altkatholiken, charismatischen und Pfingstgemeinden, paganer und schamanistischer Gruppen, reformhinduistischer Bewegungen, buddhistischer Gemeinschaften, muslimischer Verbände, neuer religiöser Bewegungen, religiöser Minderheiten usf. sowie organisierter Konfessionsfreier, Agnostiker*innen und Atheist*innen.

Und so war die Geschichte der ersten Generation bei REMID im Rückblick im Nachhinein eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Es war durchaus gelungen, die gesellschaftlichen 'Felder' Politik und Wissenschaft einander näher zu bringen. Die REMID-Statistik wurde im Endbericht der Enquete-Kommission 'Sogenannte Sekten und Psychogruppen' von 1998 zitiert* - und mehrere Vereinsmitglieder hatten Expertisen gegeben. Es gelang eine mehr oder weniger durchgehende Finanzierung von Projekten - neben Mitgliedern, die über sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teilfinanziert waren. Ausgezeichnet wurden die von K[...] und A[...] iniitierte 'Lernwerkstatt Weltreligionen', die mit den 'Schatzkisten der Religionen' in die Schulen ging, um Christentum, Judentum und Islam den Kindern näherzubringen - und die von St[...] gepflegte 'Informationsplattform Religion' im Internet, noch wenige Jahre vor Wikipedia begonnen. Auch die 'Gesichter des Islam' waren ein solches Projekt. Bis ca. 2008 übernahm St[...] viele der Anfragen, wurde für REMID zu Vorträgen und Workshops gebucht. Mit Th[...] gemeinsam gründete er den [...]-Verlag. Obwohl selbst nur am Rand des politischen und des wissenschaftlichen Feldes waren sie diejenigen, die diese Verbindung mit garantierten, die einen Wissenstransfer ermöglichten. Getragen von einem wissenschaftlichen Beirat von Professor*innen konnte REMID mehr werden als eine einfache Fachgesellschaft: Und ja, angesichts der heutigen Debatten in den Medien: es waren eher Verbindungen einzelner Mitglieder zur SPD oder zu den Grünen, die diese Verbindung ins politische Feld möglich machten. Daher wurde es Realität, dass wir regelmäßig bis heute vom Bundesamt für Statistik empfohlen werden. Dass bis zumindest 2017 einmal im Jahr das Bundeskanzleramt bei mir auf dem Handy anrief. Das Paradigma der Vielfalt - das war ein einziger Erfolg. 'Religionswissenschaft im Aufwind', hieß es erfolgstrunken.

Und trotzdem war mit dem Anfang der Ära [Angela] Merkel [CDU] alles anders. Als ich bei REMID 2005 Praktikum gemacht hatte, und dann als Ehrenamtlicher weiter die einwöchigen Sitzungen der Geschäftsstelle besuchte, galt REMID als mehr oder weniger tot. Die Sitzungen hörten auf. Die drei Teilnehmer*innen neben mir orientierten sich beruflich neu. [...]

Und ja, seitdem hat sich einiges verändert. Notgedrungen. REMID arbeitet seitdem nahezu ausschließlich ehrenamtlich, von wenigen Honorarvorträgen abgesehen. Die Geschäftsstelle wurde sukzessive verkleinert, mit neuen Untermieter*innen: Die Weltläden in Hessen und später die Allianz für Rechtssicherheit. Und wäre ab 2011 nicht Maria [...] dabei gewesen, die die neue Reihe 'REMID lädt ein' initiierte, Kontakte zum Ausländerbeirat der Stadt Marburg neu knüpfte und zur jüdischen Gemeinde, wer weiß, ob es REMID heute noch geben würde?

Nun ist es eine Frage der Perspektive, wie diese zweite Hälfte der REMID-Zeit einzuschätzen ist. Als Th[...] letzten Sommer seine Mitgliedschaft kündigte, ging es u.a. darum, dass REMID die lokale Ebene aus den Augen verloren habe. Das stimmt natürlich, wenn man es an der Berichterstattung der hiesigen Lokalzeitung misst. Warum diese sich dafür entschieden hat, weniger über uns zu berichten, und wir schreiben inzwischen seltener 'Pressemitteilungen', das wird seine Gründe haben. Diese haben aber auch mit einem Strukturwandel der Öffentlichkeit zu tun. Zugleich heißt das aber auch, selbst für diese lokale Ebene, dass das was REMID heute online macht, nicht von allen überhaupt wahrgenommen wird. Zugleich ist es natürlich auch diese Situation, beruflich andersweitig eingebunden zu sein, da kann man nicht immer ad hoc reagieren. So endete auch der Kontakt zur Hessenschau. Der letzte Anruf ging um einen islamistischen Anschlag in Frankreich 2017. Ich war gerade im Dienst in der Behindertenhilfe - und wollte die Person auf einen Rückruf vertrösten. Zugleich war diese unbedingt daran interessiert, von mir eine Bestätigung für eine Verbindung von 'Islam' und 'Terrorismus' zu bekommen.**

Inzwischen ist der Peak der REMID-Anfragen scheinbar überschritten. Ihre zuletzt wieder ansteigende Tendenz zu mehreren Anfragen täglich, häufig zur Statistik, endete im August 2018. Seitdem erhalten wir vielleicht nur noch ein bis zwei Emails pro Woche. Zugleich steigen aber Bezugnahmen durch Medien wie den Faktenfinder der Tagesschau. Es ist eine seltsame Situation. Und ich werde eher wieder ausschließlich vom religionswissenschaftlichen Feld angefragt. Mit gelegentlicher Verbindung ins politische Feld.

Und damit sind wir in der Gegenwart angekommen. Ich darf an dieser Stelle meine Gesprächspartner*innen auf dem Podium begrüßen. [...]

Doch bevor ich schließe, ich habe im Grunde meine These ja schon angedeutet: Etwas ist passiert im Sommer 2018. Und vielleicht stehen wirklich die Beendigung der privaten Seenothilfe durch staatliche Akteure insbesondere Italiens*** und 'Chemnitz'**** symbolisch für so etwas wie einen Stimmungswechsel. Und kürzlich im Januar wurde eine neue Studie vorgestellt, 'Jeder zweite Deutsche verweigert Verantwortung für die Schwachen dieser Welt': 'Hat Ihr Land generell eine Verantwortung, anderen zu helfen?', ließ das Weltwirtschaftsforum fragen. In keinem der 29 beteiligten Länder war der Anteil derer, die die Frage bejahten, so gering wie in Deutschland. Er betrug kaum mehr als die Hälfte, nämlich 54 Prozent. Vergleichbar niedrig war der Wert sonst nur noch in den USA (57 Prozent) und in Argentinien (58 Prozent). In anderen Worten: Eigentlich ist die Notwendigkeit einer Arbeit wie der von REMID eher gestiegen. Und in diesem Fall wäre das Ausbleiben der Anfragen demnach ein Anzeichen dafür, wie schlecht es gerade um Vertrauen allgemein in zivilgesellschaftliche Institutionen bestellt ist. Und dass es eben der größte Fehler wäre, damit anzufangen, falschen Applaus nachzulaufen. Und immerhin: Der Peak der Austritte war vorerst 2017 - und wir hatten schon sehr lange nicht mehr so viele Neumitglieder wie 2018. Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind! Besonders danke ich der Religionskundlichen Sammlung und dem Fachgebiet, ohne deren Unterstützung das hier nicht möglich gewesen wäre. Ich danke allen Vorstandsmitgliedern, ohne deren treue Unterstützung über Jahre der Verein längst nicht mehr bestehen würde! Doch genug der vielen Worte, steigen wir ein in die Debatte, es gibt viel zu tun!".

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques ]

* Drucksache 13/10950 [dserver.bundestag.de], 9. Juni 1998.

** "Religionswissenschaft und Ideologiekritik. Ein Gespräch aus der Zukunft", Blog des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes REMID e.V., 17. Oktober 2018:

"Heute bin 'ich' ein auktorialer Erzähler in einer Geschichte einer möglichen Zukunft, die ich erzählen möchte. Wie jeder Futurismus ist es eine noch fiktive Geschichte. Ich wähle dieses Mittel aus mehreren Gründen. Einer davon ist sicherlich auch Höflichkeit, dass 'ich' mich an einer Methode des Humanismus um 1500 orientiere. Zudem erlaubt diese leichte Verschiebung in die Zukunft eine Zuspitzung und leichte Übertreibung. Aber diese eigentlich hinter die bewussten Regungen eines auktorialen Erzählers reichenden Kenntnisse um die Gründe seiner Existenz seien auch sofort wieder vergessen: Wir befinden uns in einer mehr oder weniger nahen Zukunft. Der Ort ist ein Straßencafé, irgendwo in einer großen Metropole, in welcher gerade ein Kongress eines Dachverbandes der Religionsforschung veranstaltet wird, an mehreren Standorten des Metropolenviertels.

Es sitzen zwei Personen an einem der Tische, die draußen an der Straße stehen. Die eine, das ist deutlich zu erkennen, ist ein junger Student, der gerade zu einer Frage ansetzt: 'Mir war gar nicht klar, dass es überhaupt möglich ist, Religionen ernsthaft zu erforschen, ohne selbst religiös zu sein. Das, was Sie über diese Vereine nach 1968 erzählt haben, hat mich sehr beeeindruckt!'. [...]

Eine Kellnerdrohne bringt den Espresso, der Student trinkt einen Schluck, 'wo wir gerade bei Sachen sind, die umstritten sind: Stimmt denn das mit den Islamisten? Hatten diese Vereine wirklich mit Islamisten zusammengearbeitet?'. Von weiter Ferne hörte man eine Straßenmusik, die zu einem Tango ansetzte.

- 'Natürlich nicht in diesem Sinne, das war eine Integrationspolitik. Mitglieder des Vereins hatten u.a. Gutachten geschrieben, welche bei einer Anerkennung der Islamverbände als Vertragspartner der Bundesländer geholfen hatten. Also als es noch darum gegangen war. Und es gab eben den Fall, dass sich Partner einer Aktion im Umfeld im Nachhinein als problematisch erwiesen haben. Manchmal betrafen die Vorwürfe jemand, der eigentlich nur wegen einer Forschung mit Islamisten Kontakt hatte, also so jemandem auch seine Interviewfragen vorgelegt hatte. Was daraus nachher für alberne Verschwörungsfantasien wurden*****, das liegt zu Teilen auch daran, dass man diese Zeit nicht mehr versteht. Wir waren ja gerade bei der Öffnung der Religionswissenschaft. Mehr Interdisziplinarität. Und da war eben dieses Anliegen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Nicht länger einer Art Pakt mit der Theologie folgen - das war damals noch insbesondere die evangelische Theologie - also es ging darum, denen überließ man Europa und das Christentum, die Religionswissenschaft bekam die außereuropäischen Religionen. Und das wurde allmählich aufgebrochen. [...] Da war viel Anthropologie drin, aber auch viel Sozialwissenschaft. Man war teilnehmender Beobachter. Beschreiben ohne zu werten. Die Terminologie überarbeiten: die Sprache, die wir verwenden, mit der wir uns die Welt konstruieren. Was heute gerne zum Anfang allen Übels stilisiert wird, hatte kritische Gründe. Und das war im übrigen nie richtig ›postmodern‹, das war bloß ›modern‹, nämlich [Ludwig] Wittgenstein, Sprachspiele und Familienbegriffe. Das würde hier jetzt etwas weit führen...'.

Der Student zeigt Anzeichen von Irritierung in den Augen: 'Hatten Sie nicht eben gesagt, dass das Fach sich öffnete, dass da auch die Postmoderne rezipiert wurde?'.

- 'Ja, klar. Aber das war doch alles sehr verhalten. Am stärksten hatten die postkolonialen Überlegungen einen Einfluss, also zu Othering oder Ethnozentrismus. Daneben die Diskursanalyse, allerdings lediglich - vergleichbar der Grounded Theory - als gewählte Methode, ohne dass, sagen wir mal, die Möglichkeiten dieser Methoden immer völlig ausgeschöpft worden wären. Natürlich Gender Studies, aber zaghaft und oft eher im Mittelbau. Und sicherlich muss man einschränkend sagen, dass die Wittgenstein-Sache zwar schon vor dem 2. Weltkrieg begonnen hatte, aber erst danach allmählich ihren Einfluss entfaltete. Das eigene kleine 1968 der Religionswissenschaft, nur dass es eher ein 1989 war. [...]".

Bild beruht auf einer (mehrfach) bearbeiteten Fotografie von Jean-Christophe Benoist, "Paris, Rue Montorgueil", unter einer Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0.

*** Jürgen Habermas: "Sind wir noch gute Europäer?", in: "Die Zeit", Nr. 28, 4. Juli 2018: "Dem antikisierenden Blick auf das immergleiche Auf und Ab der Imperien entgeht das historisch Neue an der heutigen Situation. Die funktional immer dichter zusammenwachsende Weltgesellschaft ist politisch nach wie vor fragmentiert. Diese Entwaffnung der Politik erzeugt ein Gespür für die Schwelle, vor der die Bevölkerungen heute den Atem anhalten und zurückschrecken. Ich meine die Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration, die von den Bürgern verlangt, dass sie, bevor sie ihre Stimme abgeben, auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen übernehmen. Die Anwälte des politischen Realismus, die darüber ihren Hohn ausschütten, vergessen, dass ihre eigene Theorie auf den Fall des Kalten Kriegs zwischen zwei rationalen Spielern zugeschnitten war. Wo ist die Rationalität des Handelns in der heutigen Arena? Historisch betrachtet, ist der fällige Schritt zu einer politisch handlungsfähigen Euro-Union die Fortsetzung eines ähnlichen Lernprozesses, der mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert schon einmal stattgefunden hat. Auch damals ist das über Dorf, Stadt und Region hinausgreifende Bewusstsein nationaler Zusammengehörigkeit nicht naturwüchsig entstanden; vielmehr ist es von den tonangebenden Eliten den schon bestehenden funktionalen Zusammenhängen der modernen Flächenstaaten und Volkswirtschaften zielstrebig angepasst worden. Heute werden die nationalen Bevölkerungen von politisch unbeherrschten funktionalen Imperativen eines weltweiten, von unregulierten Finanzmärkten angetriebenen Kapitalismus überwältigt. Darauf kann der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen nicht die richtige Antwort sein".

Philipp Ruch: "Schluss mit der Geduld", München: Ludwig Verlag 2019, S. 138: "Jeder Mensch, der im Mittelmeer ertrinkt, wird ermordet".

**** "Als Hasi-Video und unter anderen Namen wurde im August und September 2018 ein Video bekannt, das eine Szene der Ausschreitungen in Chemnitz zeigt. Es wurde zum Zentrum der Debatte um Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, nachdem dieser die Authentizität des Videos in Zweifel gezogen hatte. [...] Das 19 Sekunden lange Video zeigt eine Szene in der Chemnitzer Bahnhofstraße nahe der Johanniskirche, am Nachmittag des 26. August 2018. An diesem Tag kam es nach einem Totschlag am Vorabend [...] zu Demonstrationen und zu Ausschreitungen durch Hooligans und Rechtsextreme. [...] Eine Frauenstimme ruft 'Hase, du bleibst hier! Du bleibst hier!' [...] Das Video ist im Hochkantformat und wahrscheinlich durch ein Handy aufgenommen worden. Die Urheber sind unbekannt. Es wurde von einem Konto Antifa Zeckenbiss, das nicht der Urheber war, am 26. August um 20:56 Uhr über Twitter und Facebook veröffentlicht. [...] Im Begleittext wurde die Szene als 'Menschenjagd' durch 'Nazi-Hools' beschrieben [...] Nach erneuten Äußerungen Maaßens zu den Ausschreitungen in Chemnitz im November 2018 wurde er mit sofortiger Wirkung in den einstweiligen Ruhestand versetzt" (WP 2023).

Abb. "Blick von der Theresenstraße in die Hospitalstraße, links im Hintergrund die Johanniskirche, Chemnitz-Zentrum" von Kleeblatt187, 2020, unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 (modifiziert).

***** "Rechte Ideologie im esoterischen und neureligiösen Bereich", in: Blog des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst REMID e.V., 23.06.2016: "[...] Im übrigen handelt es sich auch um ein konservatives Geschichtsbild, nach dem wenige Menschen (gesteigert dadurch, dass sie im Hinter- oder Untergrund agieren) 'Geschichte machen', nicht etwa gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie die Soziologie untersucht, eine entscheidende Rolle zukommt. Als Unheilsgeschichte skizzieren sie eine gefallene Welt, die Kritik am Kapitalismus als einem von Marx und Engels strukturalistisch und materialistisch gedachten Theorems wird hier zu einer personenzentrierten Moralkritik****/6, der immer das Lösungsangebot innewohnt, das Problem mit der Vernichtung dieses einen Prozents unmoralischer Menschen, historisch der 'Endlösung der Judenfrage', zu beseitigen (vgl. auch Lothar Galow-Bergemann: 'Israel und die deutsche Linke', 2015).

Während im 19. Jahrhundert der Volksmund glaubte - wie in Georg Büchners 'Woyzeck' (1837) rezitiert [buechnerportal.de] - , dass sich die Freimaurer unterirdisch treffen würden, gerieten sie als Wegbegleiter der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft in den konkreten Verdacht, hinter der Französischen Revolution zu stecken (z.B. 'so erkennen wir klar, daß die Revolution nur von einer, in allen Volksklassen zahlreich vertretenen Verschwörungsgesellschaft getragen wurde...'; Eduard Emil Eckert: 'Magazin der Beweisführung für Verutheilung des Freimaurer-Ordens. Als Ausgangspunkt aller Zerstoerungstaetigkeit: gegen jedes Kirchenthum, Staatenthum, Familienthum und Eigenthum mittelst List, Verrat und Gewalt', Band 1, Schaffhausen: Friedrich Hurter 1857, S. 5).

Dass das Verhältnis ihrer Weltanschauung zu den Idealen der Aufklärung, zum Prinzip der Toleranz, das Interesse diverser Intellektueller an ihren Riten und Inhalten - oder an ihrem Ruf - vorhanden und komplex waren, und entsprechende biographische Episoden wissenschaftlich aufgearbeitet wurden, lässt trotzdem nicht zu, dieser zeitgenössischen Ansicht einfach das Wort zu reden: Ja, die Freimaurer steckten hinter der Französischen Revolution. Ebensowenig wäre es sinnvoll, das Gegenteil zu behaupten: Die Freimaurerei habe - darauf liefe es hinaus - überhaupt keine, ja nicht die geringste historische Relevanz für die Französische Revolution. Ihre Logen haben ein wichtiges Netzwerk gebildet, eine eigene Salonkultur, in welcher Intellektuelle verkehrten ('Kommunikationszentren, Orte des persönlichen Kontaktes, [...] Anlaufstellen und Transmissionen für die Ideen der Aufklärung'; Helmut Reinalter, 'Die Freimaurer', München 2011, S. 129; Formulierung bereits in seinem Artikel zur 'Freimaurerei' im Lexikon zu Demokratie und Liberalismus, 1993, S. 112).

Überhaupt käme bei der Verschwörungsthese noch einiges hinzu: Zunächst wären die Werke der Philosophen, die Taten der Revolutionäre - alles das wäre in der Verschwörungsthese insbesondere Teil des freimaurerischen Planes gewesen, als jeweils verinnerlichte Ideale der Aufklärung werden sie also eher nicht verstanden bzw. der Beschreibung liegt die Kritik nahe, es handele sich um Inhalte der Verblendung, der Täuschung. Darüber hinaus geschieht in dieser Art der den Gegner überhöhenden 'verschwörungstheoretischen' Kritik ein interessantes Unsichtbarwerden des Geheimnisses im Zuge seiner vermeintlichen Entschleierung. Das Verschwörungs- und Geheimnishafte an der Französischen Revolution wäre in unserem Beispiel am Schluss nur mehr, dass sie a) nicht einfach geschah, sondern dass sie 'geplant' war, dass sie b) auch mit Menschen zu tun hatte, die bereits in Freimaurerlogen verkehrten oder auf Mitgliederlisten der Freimaurerei ausfindig gemacht werden können und vielleicht noch, c) dass die Freimaurerei als initiatorische Gesellschaft an und für sich auch Geheimnisse kennt. Es geht also eigentlich nur darum, dass jemand nicht wahrhaftig und aufrichtig ist, denn im Herzen geht es ihm gar nicht um die aufklärerischen Ideale, sondern um einen freimaurerischen Plan.

So wie es damals analytisch unsauber war, aus der Freimaurerei als Phänomen eines aufstrebenden Bürgertums dessen eigentliche Ursache zu machen, ist es ähnlich problematisch, heute am anderen Ende weiterzumachen und in der Freimaurerei oder anderen initiatorischen Gesellschaften die eigentlichen Gestalter einer neuen (kapitalistischen) Weltordnung zu sehen. Die Freimaurerei, die vermeintlich unterirdisch tagt, ist in dieser konspirativen Perspektive Ausdruck einer säkularen Dämonologie des 19. Jahrhunderts, noch bevor der Nationalsozialismus das 'Geheimnis der Freimaurerei' neu besetzte: mit dem Judentum (Erich Ludendorff ['Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse', München: Selbstverl. 1927]). [...]".

****/6 Der Film "Vivarium" (2019, imdb tt8368406) von Lorcan Finnegan beginnt mit dem Bild des Kuckucks, der die Eier aus dem Nest wirft, um an ihrer Stelle aufgezogen zu werden. Es geht um ein junges Paar, Gemma, gespielt von Imogen Poots, und Tom, gespielt von Jesse Eisenberg, das sich von einem Makler ein Haus zeigen lässt. Sie finden sich in einem Neubaugebiet wieder, alle Häuser sehen gleich aus, andere Menschen gibt es nicht. Es gibt Essenslieferungen, und eines Tages liegt ein Baby vor der Tür, verknüpft mit der Ansage, dass sie ihre Freiheit wiedererlangen, wenn das Kind erwachsen sei. Widerwillig kümmert sie sich um das sadistisch dargestellte Kind, während er sich zur Aufgabe macht, den falschen Rasen im Garten umzugraben. Seine "Arbeit" folgt dabei der fixen Idee, dass vielleicht in der Tiefe ein Ausweg aus dieser künstlichen Welt zu finden sei. Der Name könnte anspielen auf das historische Vivarium am Wiener Prater, das nach antisemitischer Hetze gegen die dort Forschenden von den Nazis geschlossen wurde, diese selbst wurden deportiert und ermordet.

Vgl. zum Verhältnis von Antisemitismus und Antikapitalismus die Artikel zu Moishe Postone, Jean Améry, Alfred Sohn-Rethel und Jean-Paul Sartre.

 

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