Gerhard Richter: "Volker Bradke", 1966

mit Bezug zu: "Warenform", Marburg

 

(1) Peryton (bürgerlich: Georg Hemprich): "volker bradke. eine würdigung", peryton.de, 5. Mai. 2009:

"irgendwie kommen wir immer wieder auf den bradke zu sprechen und dann gebe ich gerne zum besten, wie er mich eines morgens in einem marburger café ansprach, als ich an irgendwelchen texten arbeitete, wie ich ihn also kennenlernte ohne zu wissen, wer er war, wer sich mir da vorstellte[.]

er aber wusste; erzählte mir später oft - zornig - wer er gewesen war, oder besser: was[.]

da hatte ich jenes photo schon gemacht, das ihn zeigte, wie er mir erschien: undeutlich. unscharf sich auflösend. weil er soff; weil er, wie ich bald erfuhr, es nicht ertragen hatte, nie so viel, nie dem gleich geworden zu sein, wozu ihn 1966 ein gerhard richter gemacht hatte: zum kunstwerk[.]

richter hatte ihn herausgehoben aus dem zettelkasten seiner zeit, herausgehoben ins licht öffentlicher betrachtung - wie vordem andy warhol eine suppendose - hatte ihn gehalten, bis diese geste ausreichend gewürdigt worden war und ihn fallen gelassen, sich neuen aufgaben zuwendend auf seinem weg berühmt - unbezahlbar - zu werden[.]

eine der vielen wahrheiten, die stets im nachhinein dazu gefunden werden, ist, dass der richter den bradke nicht leiden konnte, diesen am rand der düsseldorfer kunstszene herumschlacksenden studierten mit hornbrille, der sich anschickte, lektor zu werden. für richter war er das abbild des spiessers, ein belesener schwätzer vielleicht, ein intellektualisierter kleinbürger mit marxistischem bildungshintergrund. aus rache an ihm, stellvertretend für seine zeit, vermute ich, hat richter sein konterfei vom photo abgemalt, ein filmchen gedreht, zwölf wackelige minuten lang, hat ihn ins zentrum einer ausstellung gesetzt, den bradke, der den ruhm nicht würde ertragen können [...]".

 

(2) Webseite des Künstlers, betrieben von Jose Hage, gerhard-richter.com, [vor 2023]:

"Das querformatige Gemälde Volker Bradke zeigt einen jungen Mann mit Hornbrille, der ein gemustertes Hemd und ein Jackett trägt. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen blickt er am Betrachter vorbei. Ein älterer Mann und ein Mädchen im Mittelgrund schauen wie zufällig in Richtung Betrachter und unterstreichen den Schnappschuss-Charakter des Bildes. Weitere Passanten stehen oder sitzen vor einer Steinmauer im Hintergrund.

Der überlebensgroß porträtierte Abiturient Volker Bradke suchte 1966 in der Düsseldorfer Kunstszene Anschluss und war auf zahlreichen Vernissagen und Kunstveranstaltungen anzutreffen. Die fotografische Vorlage von Volker Bradke wurde von Gerhard Richter selbst auf einem Kunstfestival in Büdingen aufgenommen. Das Bild wurde Ausgangspunkt für eine ganze Ausstellung, die sich mit der Person Volker Bradke beschäftigte [...]. Gerhard Richters Volker Bradke-Ausstellung fand am 13. Dezember 1966 statt. Auf einer Blümchentapete, die Konrad Lueg zuvor angebracht hatte, zeigte er neben dem Gemälde auch etwa 30 Fotografien, eine Fahne und einen Film, die Volker Bradke zum Thema hatten. Das Prinzip der Unschärfe - im Gemälde auf Richters charakteristische Art ausgeführt - findet sich in unscharf abgezogenen Fotografien wieder und wird zudem auch in das Medium Film übertragen".

 

(3) Dr. Eckart Gillen: "Der Maler ohne Eigenschaften. Gerhard Richters Weg aus der sozialistischen Gesellschaft in das westliche Kunstsystem 1956-1966", in: Programm der Tagung "Künstlerischer Austausch zwischen Ost- und Westdeutschland. 1. Tagung des Arbeitskreises zur Erforschung der Kunst in der DDR", 25.-26. Oktober 2008, Kunstgeschichtliches Institut der Universität Marburg:

"Der Referent stellt die Hypothese auf, dass Richter mit dem 'Kapitalistischen Realismus' als deutsche Variante der Pop Art wie in einer Selbsttherapie seine Erfahrungen als Maler im Dienste des Sozialistischen Realismus verarbeitete. Behandelt wird der Zeitraum seit dem Abschluß seiner Diplomarbeit 1956, dem Wandbild 'Lebensfreude' im Hygienemuseum Dresden bis zu seiner Ausstellung 'Volker Bradke' im Rahmen der Hommage für Schmela 1966".

 

(4) Unter einem Beitrag des Blogs "peryton" vom 18. März 2005, "das unerbitterliche auge", findet sich ein Kommentar vom 2.9.2020:

"Volker Bradke ist am 8.12.2018 in Marburg verstorben und im Ruheforst Marburger Land / Germershausen unter einer wunderschönen Buche beerdigt. Ich bin sein 17 Jahre älterer Bruder."

Aus anderen Quellen ist bekannt, dass zu den letzten, die ihn am Sterbebett besuchten, das Team der Kneipe Hinkelstein am Marburger Marktplatz gehörte.

Abb. "Marburg, Gaststätten am Markt", 2003, von Barbara und Manfred Aulbach unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0 (Ausschnitt, modifiziert).

 

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