Marburg

mit Bezug zu: "Indien", "Orient" (Andreas Kolbe*: "Liber Quartus"), "Nominalismusproblem" (Martin Heidegger, "Gnosis", "deine so genannte Religionswissenschaft"), Samuel Salzborn (Sigmund Freud, Monotheismus, Gnosis), "Warenform" (Denis Papin: Dampfmaschine, Robert Kurz → Zeitschrift "Marburg-Virus"**, 1998), Alastair (Hermann Cohen → Boris Pasternak, Felix Noeggerath), "The New Statesman & Nation" (Franz von Papen), Milano: Feltrinelli (Rudolf Otto: "Il sacro. L'irrazionale nella idea del divino e la sua relazione al razionale", 1966), Ursula Pommer (Ernst Nolte), Ferdinand Wagenseil (Gastprofessur 1945-1951, Lilo Kornmann), Kurt Wagenseil (Bad Nauheim: Sanatorium Groedel), Gerhard Richter: "Volker Bradke", 1966

 

Mitten in Europa kreuzen sich einige Zufälle der in diesem Projekt interessierenden Kontexte in der mittelhessischen Stadt Marburg.

(1) So finden sich in den Hintergrundinformationen Hinweise auf das Wirken des Gelehrten Denis Papin im 17. und des zumindest belesenen Druckers Andreas Kolbe* im 16. Jahrhundert. Um 1900 herum war der berüchtigte Alastair in Marburg und studierte dort Philosophie bei Hermann Cohen. Einer der anonymen Texte aus "The New Statesman & Nation", der in die Zeit fällt, für die Kurt Wagenseil angibt, anonym Texte eingesandt zu haben, behandelt eine Rede Franz von Papens am 17. Juni 1934 in Marburg. Dort lebte und wirkte der Systemtheologe und Religionsphilosoph Rudolf Otto, der 1917 die Schrift "Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen"*** verfasst hatte, die "Religionskundliche Sammlung" in Marburg begründete, und dort im Gebäude der Alten Kanzlei auch 1937 sein Leben beendete. Später, in den Jahren 1965-1973, hatte Ernst Nolte, einer der Kontrahenten von Jürgen Habermas im Historikerstreit, die Professor für Neuere Geschichte an die Universität Marburg inne.

Ferdinand Wagenseil hatte am Institut für Anatomie 1945-1951 eine Gastprofessur inne. 1945 war Hessen zunächst das Ziel der Flucht von Kurt und Ellen Wagenseil aus Berlin, genauer das Sanatorium Groedel in Bad Nauheim.

(2) "'Man kann sich gar nicht vorstellen', resümiert Hans Jonas**** jene Jahre, 'wie fern der Welt man sich in Marburg bewegen konnte, ohne dem Zeitgeschehen überhaupt Beachtung zu schenken'".

Das Zitat stammt aus Micha Brumlik: "Das politische Buch: Vom Alltag des Geistes. Pünktlich zum hundertsten Geburtstag von Hans Jonas liegen seine aus Gesprächen rekonstruierten 'Erinnerungen' vor" (Frankfurter Rundschau, 10. Mai 2003). Brumlik spielt in seiner Besprechung dabei auf eine andere Neuerscheinung an, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: "Briefwechsel. Band 1: 1927-1937", Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Aufsehen erregte ein Brief Theodor W. Adornos an Max Horkheimer über Herbert Marcuse***** vom 13. Mai 1935, in dem Adorno jenen als einen "durchs Judentum verhinderte[n] Faszist[en]" bezeichnete ("Adorno to Horkheimer about Herbert Marcuse", "archived by Harold Marcuse on the marcuse.org/herbert website, June 11, 2005").

Brumliks Kontext der Passage behandelt den Anhängerkreis Martin Heideggers, vgl. Axel Schmitt: "Heideggers jüdisches 'Kind' und das 'Prinzip Verantwortung'. Zum 100. Geburtstag von Hans Jonas", in: literaturkritik.de, Marburg: LiteraturWissenschaft.de unter Leitung von Prof. Thomas Anz, 01.05.2003).

Abb. links: "Lichtinstallation Sterntaler****/6 an der Außenwand der Universitätskirche am Kornmarkt", "Grimm-Dich-Pfad" der Universitätsstadt Marburg, nach einem Foto von Heinrich Stürzl (2021) unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 (modifiziert).

(3) [a] Barbara Wagner: "Station Stolpersteine", in: "Braunes Marburg. Themenweg", Marburg: Stadtverwaltung 2022: "Gerade 80 Jahre - ein Menschenleben - ist es her, dass die jüdische Bevölkerung aus Marburg vertrieben oder deportiert wurde. Nur eine Handvoll Menschen, die sich als Juden fühlten oder durch die Bürokratie als Juden benannt wurden, verblieben in der Stadt. Nur eine Handvoll kehrte nach Kriegsende zurück. Manche konnten fliehen, viele wurden im Namen der NS-Ideologie und mit tatkräftiger Zustimmung ihrer Nachbarn ermordet. [...] Die Kontakte brachen ab, als die ehemaligen Marburger zu alt zum Reisen wurden. Noch 2020 lebte die 1918 in Marburg geborene Hilde Fürst im fernen Brasilien".

[b] Klaus-Peter Friedrich: "Station Frankfurter Straße (Kämpfrasen)", ebenda: "Große Menschenmassen anziehende Fackelumzüge gehörten in deutschen Universitätsstädten um 1930 zum Alltag. In Marburg dienten sie dem Protest gegen den Friedensvertrag von Versailles. Im Rahmen der Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaft und der Durchdringung der deutschen Gesellschaft mit zuvor auf den Kreis der Nationalsozialisten beschränkten Vorstellungen kam es am 10. Mai 1933 zur Bücherverbrennung. Mit dem archaischen Ritual der Bücherverbrennung war die Vorstellung verbunden, das Bisherige ließe sich mithilfe läuternder Flammen auslöschen".

Abb. rechts: "Exkursion in die Gedenkstätte Hadamar. Auseinandersetzung mit der Geschichte und den langfristigen Auswirkungen der Krankenmorde durch die 'Euthanasie'. 31 Mai 2024 [...] AStA. Referat für Politische Bildung und Kultur".

[c] Harald Maier-Metz: "Hermann Jacobsohn. Sein Leben", in: "Germanistik und Kunstwissenschaften im 'Dritten Reich'. Marburger Entwicklungen 1920-1950", hrsg. von Kai Köhler, Burghard Dedner und Waltraud Strickhausen, Reihe "Academia Marburgensis. Beiträge zur Geschichte der Philipps-Universität Marburg", Band 10, München: K.G. Saur 2005, S. 143-152, insb. S. 148f.: "Aus der Erinnerung schildert er [Wilhelm Röpke, Jurist] den 27. Februar 1933: 'Ein unvergeßlicher Tag, dieser 27. Februar 1933. Mein Freimut fand neben Beifall selbst unter den Besonnenen viel Kritik, und erst Jahre später haben mir einige unter ihnen gestanden, wie recht ich gehabt hätte. Ich selber war tief erregt, weil ich mir der Tragweite meiner Rede bewußt war, und so willigte ich denn gerne ein, als mein Freund Hermann Jacobsohn [Sprachforscher, Universitätsprofessor wie Röpke] mich am späten Nachmittag jenes Tages mit Rudolf Otto zu einem Spaziergang abholte. Wir gingen an der Lahn entlang zum Südbahnhof und erörterten den ungeheuren Emst jener Tage. Plötzlich blieb ich stehen, sah meine beiden Freunde besorgt an und fragte sie, ob nicht auch sie einen starken Brandgeruch wahmähmen. Zu meinem Erstaunen verneinten sie das, während ich in immer größerer Erregung versicherte, daß es ohne allen Zweifel irgendwo brennen müsse. Ich riß mich los und stürmte in meine Wohnung in der Bismarckstraße. Dort empfing mich meine Frau auf der Haustreppe verstört. ›Der Reichstag brennt‹, sagte sie.' [Anm. 24: Wilhelm Röpke: 'Marburger Dozenten- und Professorenjahre 1922-1933', in: 'Alma mater philippina', WS 1965/66, S. 18-23, hier S. 19].

Wenige Wochen später, am 25. April 1933, wurde in Berlin um 15.59 Uhr ein Telegramm an den Kurator der Philipps-Universität aufgegeben, das folgende lapidare Mitteilung enthielt: 'bis zur endgültigen entscheidung aufgrund des beamtengesetz werden mit sofortiger wirkung unter entbindung von allen universitätsverpflichtungen aber mit voller weiterbezahlung der bezüge beurlaubt die professoren röpke und jacobsohn [...]'". Hermann Jacobsohn mußte die Tragweite dieser Entscheidung, die die endgültige Entlassung und Verfolgung, die Gefährdung seiner Familie bedeutete, bewußt gewesen sein, als er am folgenden Tag diese Mitteilung erhielt. In der Lage des Verzweifelten suchte er vergeblich die Aussprache mit seinem Freund Rudolf Otto. Dieser war kurzfristig nach Berlin abgereist, um wegen der drohenden Entlassung des Kirchenhistorikers Hermelink im Kultusministerium vorzusprechen. Hermann Jacobsohn entkam seiner verzweifelten Lage nicht mehr. Am 27. April warf er sich vor den Zug aus Frankfurt und setzte seinem Leben ein Ende".

[d] Barbara Hopmann: "Von der Montan- zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG), 1916-1951", Stuttgart: Franz Steiner 1996, S. 108: "[Die] im Werk Allendorf [heute Stadtallendorf im Landkreis Marburg-Biedenkopf] arbeitenden ungarischen Jüdinnen, die im Rahmen der 'Eichmann-Aktion' deportiert und über das KZ Auschwitz nach Allendorf gekommen waren, [mussten] täglich 12 Stunden in zwei Schichten Bomben, Granaten und V-1-Sprengladungen fertigen [Anm. 159 Vgl. IVGA Altlasten Alldorf, Kleine Dokumentation zur Geschichte des Außenkommandos Nobel/Münchmühle]. [...] Besonders gefährlich war der Umgang mit Trinitrotoluol, das über Haut und Lunge in den Körper eindrang und zunächst zur sogenannten 'Pulverkrätze' führte. Weitere äußere Anzeichen für eine Vergiftung waren gelb-orangegefärbte Haare und eine orange Hautverfärbung. Die Betroffenen wurden deshalb in der Bevölkerung auch 'Goldköpfchen' oder 'Kanarienvögel' genannt [Anm. 163: Vgl. Horn, Allendorf, S. 43; Klewitz, Arbeitssklaven, S. 113; König/Schneider, Sprengstoff, S. 89ff.]. Eine der seit 1944 im Werk Allendorf eingesetzten ungarischen Jüdinnen erinnert sich:

'Als wir im August 1944 in Allendorf angekommen sind, schien uns merkwürdig, wie ›wunderschön‹ gelb und rot die Blätter der Bäume sind. Was die Ursache dieser Erscheinung ist, wußten wir damals noch nicht. Als die Monate vergangen sind, unsere Haare wurden allmählich noch röter. Unsere Haut wurde schon ganz gelb. Dann haben wir gewußt, daß alles vom Gift gelb und rot geworden ist' [Anmerkung 164: Brief Frau L.K. vom 27.11.1987, abgedruckt in: Kleine Dokumentation zur Geschichte des Außenkommandos Nobel/Münchmühle (IVGA Altlasten Allendorf)".

Abb. links: Nur ein Stück die Straße von der Universitätskirche aus hoch, am Schuhmarkt an der Reitgasse, befindet sich die zwischen 1180 und 1200 erbaute Kilianskapelle, in der Zeit des Nationalsozialismus war dort die Gestapo stationiert. Nach Erwerb durch ein Wohnungsbauunternehmen wird das Gebäude seit Oktober 2013 für Studierendenunterkünfte genutzt. Der Schirm im Vordergrund gehört zu einem benachbarten Straßencafé.

(4) Anna Reuss und Justus Bender: "Politisierte Jugend. Die Null-Bock-Haltung ist passé", faz.net, 22.10.2016:

"In Marburg wird die Gesinnung von Studenten in Höhenmetern gemessen. Wer in einem der Verbindungshäuser wohnt, auf dem Berg nahe dem Landgrafenschloss, der bezeichnet sich meistens als konservativ oder auch als rechts. Manche haben sogar Verbindungen in die rechtsextreme Szene. Wer hingegen in einer der Wohngemeinschaften unten im Tal wohnt, bei dem ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass er linksliberal denkt. Und ganz unten, auf dem Universitätscampus neben dem Fluss, sitzen vier Kommunisten im Asta-Referat für Antifaschismus und Antirassismus, zwei Männer und zwei Frauen. [...]

Wie Rechte und Linke sich in der Studentenstadt bekriegen, könnte man sich an die Weimarer Republik erinnert fühlen. Wo sonst in Deutschland tragen Kommunisten und Nationalisten ihre Fehden noch auf offener Straße aus, mit Protesten und Gegenprotesten, Steinwürfen auf Fensterscheiben, Schmierereien und Pöbeleien. Manchmal schlägt auch einer zu.

Andererseits könnte Marburg auch eine Studentenstadt der Zukunft sein. Die Polarisierung im Land nimmt zu. Es gibt Burschenschaften, Identitäre Bewegung, Junge Alternative, Rechtsextreme auf der einen, und Grüne Jugend, Antifa, SDS, 'Blockupy' und 'Solid', eine Jugendorganisation, die der Linkspartei nahe steht, auf der anderen Seite. Um ein Gefühl für dieses neue Deutschland zu bekommen, macht man mit den vier Kommunisten am besten einen Spaziergang durch die Stadt. Immer nach oben, in die 'verbotene Zone', wie sie sagen. [...]".

Abb. rechts "Pappschild mit Bezug zur Kollektivkneipe Havanna Acht (1985-2019)", Marburg um 2019. "Auch die Marburger Stadtverordnetenversammlung diskutierte bereits über das Havanna Acht. Linke und Grüne machen die Gentrifizierung für das Dilemma verantwortlich. Die SPD beteuert, über Ausweichmöglichkeiten für das Kneipenkollektiv nachzudenken" (Hannah Bernstein: "Kreditbetrug und Hausbesetzung", taz.de, 20.6.2019).

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques ]

* Andreas Kolbe druckte auch Hans Staden: "Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen / in der Newenwelt America gelegen / vor und nach Christi geburt im Land zue Hessen unbekant / biss vff dise ij. nechst vergangene jar / Da sie Hans Staden von Homberg auß Hessen durch sein eygne erfarung erkant / vnd yetzo durch den truck an tag gibt. Dedicirt dem Durchleuchtigen Hochgebornen herrn / H. Philipsen Landtgraff zue Hessen / Graff zue Catzenelnbogen / Dietz / Ziegenhain vnd Nidda / seinem G.H. Mit eyner vorrede D. Joh. Dryandri / genant Eychman / Ordinarij Professoris Medici zue Marpurgk. Inhalt des Buechlins volget nach den Vorreden. Getruckt zue Marpurg / im jar M. D. LVII" (Ergänzung am Schluss des Buches: "Zue Marpurg im Kleeblatt / bei Andres Kolben / vff Fastnacht. 1557").

** Außer Kopien des Interviews mit Robert Kurz und Ernst Lohoff findet sich online auschließlich der Hinweis der "Forschungsgruppe Politische Ökonomie" (fgpoloek.de/veranstaltungen.html), 11.02.2002, auf eine gemeinsame Veranstaltungsreihe, "nachgeholt dependent abgehängt", "[e]ine Veranstaltungsreihe der -- mittlerweile eingestellten -- Zeitschrift marburg virus und der Forschungsgruppe Politische Ökonomie zu Weltwirtschaft und internationaler Solidarität anläßlich des EU- und Weltwirtschaftsgipfels im Juni 1999 in Köln":

"Dienstag, 20. April[.] Film: Im Herbst der Bestie[.] Der Film dokumentiert die Anti-IWF/Anti-Weltbank-Kampagne im Herbst 1988 in Westberlin. [...]
Sonntag, 9. Mai[.] Uta Ruppert: Global Governance auf dem feministischen Prüfstand[.] [...]
Montag, 17. Mai[.] Forschungsgruppe Politische Ökonomie: Regulierung und Deregulierung der Weltwirtschaft[.] Globalisierung -- neues Moment weltwirtschaftlicher Integration oder neues Schlagwort für die mehr oder weniger stetige Ausbreitung des Kapitalismus? Globalisierung -- unabwendbarer Sachzwang oder gestalt- und aufhaltbarer Trend? Referiert wird über Aspekte internationaler Wirtschaftsbeziehungen in den letzten Jahrzehnten sowie die Rolle der internationalen Institutionen IWF, Weltbank, GATT/WTO. Insbesondere interessieren dabei die Fragen nach Reformierbarkeit und Regulierungsmöglichkeiten der Weltwirtschaft.
Freitag, 28. Mai[.] Marianne Kolter/Jochen Müller: Die Zeitschriften 'Dritte Welt' und 'Blätter des iz3w' im Rückblick[.] Der Name 'Blätter des iz3w' steht für die Zeitschrift des Informationszentrums Dritte Welt aus Freiburg, die Zeitschrift 'Dritte Welt', ehemals 'antiimperialistisches Informationsbulletin', stammt aus Marburg, existiert jedoch nicht mehr. Beide Zeitschriften verstanden bzw. verstehen sich als Magazin und Sprachrohr der internationalen Solidaritäts-Bewegung. Marianne Kolter, die lange für die Zeitschrift 'Dritte Welt' geschrieben hat und Jochen Müller von den 'Blättern' berichten über die möglicherweise unterschiedlichen theoretischen Ansätze beider Zeitschriften und Veränderungen der Internat-Bewegung. [...]
Alle Veranstaltungen finden statt im Cafe Trauma um 20.00 Uhr. Ebenfalls mit dem Schwerpunkt 'nachgeholt dependent abgehängt' ist die Nr. 69 des marburg virus erschienen".

Abb. Fotografie "'Der Funke', später: 'Revolutionäre Kommunistische Partei', 'Bist du Kommunist?'", angerissener Aufkleber mit Konterfei von Karl Marx auf Laterne, wirbt nach dem 7. Oktober 2023 mit "Intif[***] bis zum Sieg". Intif[...] ist eine Ableitung des Verbs انَفَّضَ naffaḍa, das unter anderem "sich erheben", "abstreifen" oder "abschütteln" bedeutet, im historischen Resultat einen Aufruf, Juden*Jüdinnen zu ermorden. Während der sogenannten "zweiten Intif[***]" 2000-2005 schrieb Paul Spiegel, damals Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, einen Gastbeitrag in "Die Welt", "Israel kämpft um seine Existenz", 02.04.2002: "Wie schon so oft, verschanzen sich hinter dem Ruf nach Frieden die wahren Mörder".

*** Das "Numinose" oder "Heilige" wurde wichtig in der frühen Religionssoziologie bzw. Religionsphänomenologie:

[a] Rudolf Otto: "Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen" [EA 1917], München: Beck 1936, 23-25. Auflage, S. 168f.: "Nur divinatorische Naturen haben dieses Vermögen der Divination in actu; und nicht der Mensch überhaupt wie der Rationalismus meint oder die indifferenzierte Masse gleichartiger Subjekte in Wechselwirkung wie es die moderne Völkerpsychologie sich denkt sind Empfänger und Träger der Eindrücke des Überweltlichen, sondern immer Bevorzugte, 'Erwählte'".

[b] Gustave Le Bon: "Psychologie der Massen" [EA 1895], Stuttgart: Klett 1938, 6. Auflage, S. 17f.:  "Sorgfältige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen, daß ein Einzelner, der lange Zeit im Schoße einer wirkenden Masse eingebettet war, sich alsbald - durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen, oder sonst eine unbekannte Ursache - in einem besonderen Zustand befindet, der sich sehr der Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluß des Hypnotiseurs überkommt".

[c] Carl Gustav Jung: "Bewußtes und Unbewußtes. Beiträge zur Psychologie", Frankfurt am Main: S. Fischer 1957, S. 37f.: "Alles, was die Schlange [als Symbol] berührt, wird numinos, das heißt unbedingt, gefährlich, tabuisiert, magisch".

[d] Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: "Dialektik der Aufklärung" [EA New York: New York Institute of Social Research 1944; Amsterdam: Querido 1947], Frankfurt am Main: S. Fischer 2003, S. 168: "Das von der Religionssoziologie erfundene metaphysische Charisma des Führers hat sich schließlich als die bloße Allgegenwart seiner Radioreden erwiesen, welche die Allgegenwart des göttlichen Geistes dämonisch parodiert".

Abb. links: "Dualismus in Marburg", Ausblick von der Zwischenebene der Treppe am Oberstadtaufzug auf die Lahnberge, 2024.

**** Hans Jonas: "Gnosis und spätantiker Geist I: Die mythologische Gnosis", Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1934, "II: Von der Mythologie zur systematischen Philosophie", Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1954: Einerseits sei "Gnosis [...] die mythische Anschaung des eschatologisch gefaßten Weltwesens" (I, S. 16), doch andererseits ist bereits durch die Heilserkenntnis "ein unmittelbar praktischer Rückbezug auf das Dasein gegeben. Das 'Heil' aber ist Entweltlichung; die praktisch vollzogene Entweltlichung ist 'Gnosis'" (S. 17). "Selig, wer die Welt gekreuzigt hat, und nicht die Welt hat ihn kreuzigen lassen" ("Bücher des Jeu", zitiert nach Kurt Rudolph: "Die Gnosis", 3. Auflage, Göttingen: utb 1994, S. 186). "Wenn dies so geschehen ist, wird das in der Welt verborgene Feuer hervorbrechen und sich entzünden und alle Materie vernichten, sich selbst aber zusammen mit ihr verzehren und in das Nichtsein eingehen" ("Dreiteiliger Traktat", zitiert nach ebenda, S. 215). Jonas schließt seiner Rekonstruktion der spätantiken Gnosis eine kritische Betrachtung des Nationalsozialismus an.

Kurt Rudolph (1929-2020), ein "Religionswissenschaftler, der sich insbesondere mit Gnosis und Manichäismus beschäftigte" (WP), hatte von 1986 bis 1994 eine Professur Religionsgeschichte in Marburg.

***** Herbert Marcuse: "Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung", Frankfurt am Main: Zeitschrift für Sozialforschung 1934, S. 33f.: "Der Liberalismus sieht hinter den ökonomischen Kräften und Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft 'natürliche' Gesetze, die sich in ihrer ganzen heilsamen Naturhaftigkeit erweisen werden, wenn man sie nur frei und ohne künstliche Störung zur Entfaltung kommen läßt. [...] Es gibt eine 'Natur der Dinge', die unabhängig von Menschenwerk und Menschenmacht ihre ureigene Gesetzmäßigkeit hat, die sich durch alle Störungen hindurch immer wieder selbst herstellt. [...] Der Liberalismus glaubt, daß bei Anpassung an diese 'Naturgesetze' das Gegeneinander der verschiedenen Bedürfnisse, der Widerstreit zwischen Privat- und Allgemeininteresse, die soziale Ungleichheit sich am Ende aufhebt in der allumfassenden Harmonie des Ganzen und vom Ganzen aus auch dem Einzelnen zum Segen wird".

****/6 Thomas Söder: "Georg Büchner: Woyzeck. Das Drama der Welt und die Welt als Drama", in: Thomas Söder: "Studien zur Deutschen Literatur. Werkimmanente Interpretationen zentraler Texte der deutschen Literaturgeschichte", Münster: Lit 2008, S. 75-103, insb. S. 99: "Das ist das Märchen der Großmutter. Vorlage ist zweifellos das Märchen 'Die Sterntaler' der Gebrüder Grimm. Die authentische Beziehung Kind-Großeltern, die normalerweise Märchen erzählen, behält [Georg] Büchner bei, den Märchencharakter verändert er. Von der Struktur her, ist das Märchen der Großmutter kein Volksmärchen, sondern ein Kunstmärchen".

Meagan Tripp: "Das Anti-Märchen als Kulturfenster und Zeitzeuge in Georg Büchners Woyzeck", in: "Jahrbuch für Internationale Germanistik", Nr. 2 / 2010, S. 63-73, hier S. 65 mit Zitat von Georg Büchner: "Woyzeck. Kritische Lese- und Arbeitsausgabe" [Manuskript 1836/37 in Straßburg und Zürich, nach Flucht aus Gießen bzw. dem Großherzogtum Hessen, EA Frankfurt am Main: Sauerland 1879, buechnerportal.de], Ditzingen: Reclam 1996, S. 39-41: "In der sogenannten 'Mord-Komplex'-Szene wird das Anti-Märchen unmittelbar vor der Ermordung erzählt.

Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat [gesucht] Tag und Nacht. Und wie auf der Erd niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie's endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz. Und da ist es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam war's ein [verwelkt] Sonneblum und wie's zu den Sterne kam, warens klei golde Mück, die waren angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt und wie's wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und ist ganz allein.

Nach dem Märchen ersticht Woyzeck Marie am Teich".

 

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