Moishe Postone, Auszug

mit Bezug zu: "Warenform", Hans Reisiger, Ursula Pommer, Jean Améry, Walter Benjamin, "Es waren materialistische Menschen", "Nominalismusproblem", IHRA: Definition 2016, Samuel Salzborn, Edition Tiamat

Moishe Postone: "Antisemitismus und Nationalsozialismus" [zuerst in: 'Autonomie', Nr. 14, 1979], in: "Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen", Freiburg / Wien: ça ira-Verlag 2020 (Erstauflage 2005).

S. 185-187: "In diesem Beitrag geht es um einen anderen Strang, nämlich um jene Formen von Romantizismus und Revolte, die ihrem Selbstverständnis nach anti-bürgerlich sind, in Wirklichkeit jedoch das Konkrete hypostasieren und damit innerhalb der Antinomie der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen verharren. Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel Geld als 'Wurzel allen Übels'. Dem wird die bestehende, konkrete Seite dann als das 'natürliche' oder ontologisch-menschliche, das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe, positiv entgegengestellt. So wird - wie etwa bei [dem Anarchisten Pierre-Joseph] Proudhon* [1809-1865] - konkrete Arbeit als das nichtkapitalistische Moment verstanden, das der Abstraktheit des Geldes entgegengesetzt ist.

Daß konkrete Arbeit selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen beinhaltet und von ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen. Mit der Fortentwicklung des Kapitalismus, der Kapitalform und ihres Fetischs bekommt die dem Warenfetisch innewohnende Naturalisierung neue Dimensionen. Wie bei der Warenform ist die Kapitalform durch das antinomische Verhältnis des Abstrakten und Konkreten, die beide natürlich erscheinen, gekennzeichnet. Die Qualität des 'Natürlichen' ist aber unterschiedlich. Verbunden mit dem Warenfetisch ist die Vorstellung grundsätzlich gesetzmäßiger Verhältnisse zwischen individuellen Monaden, wie es sich etwa in der klassischen politischen Ökonomie und der Theorie von Naturgesetzen zeigt. Das Kapital ist nach Marx in seiner prozessualen Form als selbstverwertender Wert charakterisiert, als die unaufhörliche rastlose Selbstvermehrung des Wertes. Es erscheint in der Form von Geld sowie in der von Waren, das heißt, es hat keine fertige und endgültige Gestalt. Kapital erscheint als rein abstrakter Prozeß. Seine konkrete Dimension ändert sich dementsprechend: Individuelle Arbeiten bilden nicht länger abgeschlossene Einheiten, sondern werden mehr und mehr zu Teilkomponenten eines größeren dynamischen Systems, das Mensch wie Maschine umfaßt und dessen Zweck Produktion um der Produktion willen ist. Das Ganze wird größer als die Summe der sie konstituierenden Individuen und hat einen Zweck, der außerhalb ihrer liegt. Die Kapitalform gesellschaftlicher Verhältnisse hat einen blinden, prozessualen, quasi-organischen Charakter. Mit der Durchsetzung der Kapitalform verlor das mechanische Weltbild des 17. und 18. Jahrhunderts an Bedeutung; mehr und mehr übernahmen organische Prozesse an Stelle statischer Mechanik die Form des Fetischs. [...] Wie angedeutet, läßt der 'Doppelcharakter' auf der logischen Ebene der Warenanalyse die Arbeit als ontologische Betätigungsweise erscheinen und nicht als eine Tätigkeit, die materiell von den gesellschaftlichen Beziehungen geformt wird; er stellt die Ware als rein stoffliches Ding dar und nicht als Vergegenständlichung vermittelter gesellschaftlicher Beziehungen. Auf der logischen Ebene des Kapitals läßt der 'Doppelcharakter' (Arbeits-und Verwertungsprozeß) industrielle Produktion als ausschließlich materiellen schöpferischen Prozeß, ablösbar vom Kapital, erscheinen. Die manifeste Form des Konkreten ist nun organischer.

So kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger 'natürlicher' handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum 'parasitären' Finanzkapital, als 'organisch' verwurzelt. Seine Organisation scheint der Zunft verwandt zu sein; der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem es sich befindet, wird als eine übergeordnete organische Einheit gefaßt: Gemeinschaft, Volk, Rasse. Kapital selbst - oder das, was als negativer Aspekt des Kapitalismus verstanden wird - wird lediglich in der Erscheinungsform seiner abstrakten Dimension verstanden: als Finanz-und zinstragendes Kapital. In dieser Hinsicht steht die biologistische Ideologie, die die konkrete Dimension (des Kapitalismus) als 'natürlich' und 'gesund' dem Kapitalismus (wie er erscheint) gegenüberstellt, nicht im Widerspruch zur Verklärung des Industriekapitals und seiner Technologie. Beide stehen auf der 'dinglichen' Seite der Antinomie. Das wird gewöhnlich mißverstanden. So zum Beispiel von Norman Mailer, der in einer Verteidigung des Neo-Romantizismus (und des Sexismus) in seinem Buch The Prisoner of Sex [Boston: Little, Brown and Company 1971]** schrieb, daß Hitler zwar von Blut gesprochen, aber die Maschine gebaut habe. Dabei blieb unverstanden, daß im fetischistischen 'Antikapitalismus' dieser Art beides, Blut wie Maschine, als konkretes Gegenprinzip zum Abstrakten gesehen wird. Die positive Hervorhebung der 'Natur', des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft, geht ohne weiteres zusammen mit einer Verherrlichung der Technologie und des industriellen Kapitals".

 

* Pierre-Joseph Proudhon prägt 1840 in seiner Schrift "Was heißt Eigentum? Oder: Untersuchungen über die Grundlagen von Recht und Staatsmacht" ["Qu'est ce que la propriété? Ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement", Paris: J.-F. Brocard 1840, gallica.bnf.fr] den Ausspruch "La propriété, c'est le vol", "Eigentum ist Diebstahl".

Die in anderem Kontext genannte Anzeige für die Lebenserinnerungen der Prinzessin Olga Valerianowna Palej im Börsenblatt des deutschen Buchhandels vom 28. April 1925 bedient sich für einen der beiden dort Lenin zugeschriebenen Sätze wahrscheinlich bei jenem Ausspruch Proudhons, der andere ist aus Georg Büchners "Hessischen Landboten" von 1834 (siehe Artikel Grete Lichtenstein).

** In Kurt Wagenseils Bibliothek vorhanden: "Die Nackten und die Toten", übers. von Walter Kahnert, München / Berlin: Herbig 1950; "Frühe Nächte", übers. von Günther Panske, Müchen / Berlin: Herbig 1983.

 

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