Jean Améry: "Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten", München: Szczesny 1966

mit Bezug zu: "Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen" (Gerhard Szczesny), München: Gerhard Szczesny 1962-1968 → Aschaffenburg: Internationaler Bücherdienst der Konfessionslosen IBDK 1984-1994, Alibri 1994ff. ⇆ München: Matthes & Seitz, Viktor Jankélévitch, Moishe Postone, IHRA: Definition 2016, Friedrich Torberg (Wien: Saturn, Zürich: Humanitas / Diana, Torino: Einaudi), Berlin / Teetz / Leipzig: Hentrich & Hentrich

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Jean Améry, geb. am 31. Oktober 1912 als Ha(n)ns Mayer in Wien, Österreich-Ungarn, gestorben am 17. Oktober 1978 in Salzburg, war ein österreichischer Schriftsteller, Widerstandskämpfer gegen den und ein Opfer des Nationalsozialismus. Améry ist ein Anagramm von Mayer.

(1) Zuvor erschien bereits u.a.
- [Kathrine] Kressmann Taylor: "Address unknown", in: "Story", 1938 (übersetzt als "Adressat unbekannt", Hamburg: Hoffmann und Campe 2000);
- Stefan Zweig: "Die Welt von gestern", London: Hamish-Hamilton und Stockholm: Bermann-Fischer 1942;
- Friedrich Torberg: "Mein ist die Rache. Novelle" (mit einer Wagenseil-Figur), Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1943;
- Tadeusz Borowski: "Bei uns in Auschwitz" [EA "U nas w Auschwitzu", 1946], übersetzt von Vera Ceryn, München: Piper 1963;
- Arthur Alexander Becker: "Mauthausen!" [Erstaufführung unter dem Titel "Der Weg ins Leben"], Salzburg: Ried-Verlag 1946;
- Primo Levi: "Ist das ein Mensch?", übersetzt von Heinz Riedt, Frankfurt am Main: Fischer 1961 [EA: 'Se questo è un uomo', Turin: Francesco De Silva 1947, Neuausgabe Turin: Einaudi 1958];
- Maria Mathi: "Wenn nur der Sperber nicht kommt", Gütersloh: Bertelsmann 1955;
- Gerda Weissmann Klein: "All but my Life. A Memoir", New York: Hill & Wang 1957 (übersetzt als "Nichts als das nackte Leben", Gerlingen: Bleicher 1999);
- Christian Geissler: "Anfrage", Hamburg: Claassen Verlag 1960;
- Charlotte Delbo: "Les belles lettres", Paris: Éditions de Minuit 1961 und "Auschwitz et après", 3 Bände, Paris: Éditions de Minuit 1965-1971. ["Auschwitz und danach. Trilogie", Frankfurt am Main: Stroemfeld/ Roter Stern 1990].

(2) Marina Chernivsky: "Zeitreisende", in: "Sicher sind wir nicht geblieben. Jüdischsein in Deutschland", hrsg. von Laura Cazés, Frankfurt am Main: S. Fischer 2022, S. 205-219, insb. S. 218, Anm. 3: "Schon zum Nürnberger Prozess lagen etliche Informationen über die Vernichtung vor. Dennoch wird der Genozid an den Juden lange nicht als eigenständiges Phänomen betrachtet und als 'Crime against Humanity' beschrieben. Gleichwohl entstanden wichtige Studien unter anderem von Reitlinger (1953) [Gerald Reitlinger: 'The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939-1945', London: Vallentine, Mitchell 1953], Paliakov / Wulf (1955) [Leon Poliakov und Josef Wulf: 'Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze', Berlin: Arani 1955], Tenenbaum (1956) [Joseph Tenenbaum: 'Race and Reich. The Story of an Epoch', New York: Twayne Publishers 1956] und später von Raul Hilberg (1961; veröffentlicht jedoch bei Olle & Wolter erst im Jahre 1982; dann im Fischer Verlag 1990) ["The Destruction of the European Jews", Chicago: Quadrangle 1961; "Die Vernichtung der europäischen Juden; die Gesamtgeschichte des Holocaust", aus dem Englischen von Christian Seeger, Berlin: Olle & Wolter 1982]".

S. 206: "Während die Nachgeborenen der Überlebenden, ihre Kinder und Enkelkinder, ein Stück Vernichtung in sich tragen, tragen die Nachgeborenen der einstigen Täter:innen und Beobachter:innen ein Stück Verdrängung in sich, die sie oftmals nicht verstehen und nicht berühren können. In diesem Spannungsfeld einer fortwährenden Asymmetrie entstehen neue Beziehungen und neue Wege, die von den geerbten, teils stockenden, teils zurechtgebogenen und dadurch erträglichen Verhältnissen überrollt oder einfach nur überschattet werden. Die Vergangenheit an sich muss ja nicht ausschlaggebend sein; es reicht, wenn diese uns mit assymetrischen Erfahrungen heimsucht und wenn daraus asymmetrische Anstrengungen erwachsen, da die Machtverhältnisse in der Verhandlung von Geschichte sich nicht geändert und wir uns darin womöglich noch nicht gefunden haben".

(3) Jutta Ditfurth: "Haltung und Widerstand. Eine epische Schlacht um Werte und Weltbilder", Hamburg: Osburg Verlag 2019, S. 128f.: "Reinhard Strecker, 1930 geboren, SDS-Mitglied, [...] arbeitete an der Ausstellung 'Ungesühnte Nazijustiz'. [...] Seine Ausstellung wurde zum ersten Mal im Mai 1959 auf dem 'Kongress für Demokratie - gegen Restauration und Militarismus' gezeigt, welchen SDS, Falken, Jusos und Naturfreundejugend organisiert hatten. Auch der Liberale Studentenbund (LSD) und der Evangelische Studentenbund (ESG) unterstützten Strecker. [...] In Westberlin verhinderte die regierende SPD die Vermietung öffentlicher Räume an die Veranstaltung. [...] Die [...] Philosophin Margherita von Brentano (1922-1995) war eine der Ersten, die die Vernichtung der europäischen Juden zum Thema von Radiosendungen machte. Sie leitete von 1950 bis 1956 den Schüler- und Jugendfunk des Südwestfunks (SWF). Im Februar 1960 veranstaltete der SDS Westberlin gemeinsam mit der Deutsch-Israelischen Studiengruppe (DIS) den Kongress 'Überwindung des Antisemitismus', den Margherita von Brentano und Manfred Rexin (SDS) leiteten. [...] Der Tagung folgte das einjährige Seminar 'Antisemitismus und Gesellschaft' von Margherita von Brentano und anderen".

(4) "Holocaust. The Story of the Family Weiss" (USA 1978, imdb tt0077025) lief als "Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss" vom 23.-26. Januar 1979 in den dritten Programmen des bundesrepublikanischen Fernsehens, im März auch im österreichischen ORF.

(5) Inhaltsverzeichnis "Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten", München: Szczesny 1966:

1. "An den Grenzen des Geistes"
2. "Die Tortur"
3. "Wieviel Heimat braucht der Mensch?"
4. "Ressentiments"
5. "Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein".

Ausgabe München: dtv 1970, "Wieviel Heimat braucht der Mensch?", S. 55-76, Zitat S. 58: "Ich war kein Ich mehr und lebte nicht mehr in einem Wir. Ich hatte keinen Paß und keine Vergangenheit und keine Geschichte".

 

(6) Marlene Gallner: "Antisemitismus ohne Antisemiten. Zur Aktualität von Jean Amérys Kritik des Antizionismus", in: "Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart. Erscheinungsformen - Theorien - Bekämpfung", hrsg. von Stephan Grigat unter Creative-Commons-Lizenz CC BY 4.0, Reihe "Interdisziplinäre Antisemitismusforschung/Interdisciplinary Studies on Antisemitism" Band 14, Baden-Baden: Nomos 2023 [nomos-elibrary.de], S. 117-133, insb. S. 123f.:

"Amérys eigene Reflexionen waren geprägt von Jean-Paul Sartre, insbesondere von dessen Überlegungen zur Judenfrage, die der französische Philosoph kurz nach dem Krieg veröffentlichte. Drei Aspekte waren für Améryvon entscheidender Bedeutung und finden sich in seinen eigenen Schriften wieder.

Erstens, es gibt keine Judenfrage, sondern eine Antisemitenfrage. Die Gründe für den Antisemitismus haben nichts mit den realen Juden zu tun, sondern mit den projektiven Bedürfnissen des Antisemiten. Es ist falsch, zu versuchen, den Antisemitismus von den Juden aus zu erklären. Um den Hass gegen sie zu begreifen, muss der Blick auf die Antisemiten gerichtet werden. Sartre schreibt über die psychologische Entlastung als Funktion des Antisemitismus: '[E]xistierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden' (['Überlegungen zur Judenfrage', Reinbek bei Hamburg: Rowohlt] 2010:12).

Zweitens, durch den Antisemitismus wird der Jude von anderen zum Juden gemacht. Améry konnte sein eigenes Judentum nicht positiv bestimmen. Er ist weder jüdisch aufgewachsen, noch hatte er irgendeine Verbindung zur Tradition oder der Sprache. Er war Atheist. Und doch konnte er dem Urteil der Antisemiten über ihn nicht entgehen, ganz egal wie er aussah, was er sagte und was er tat. Für die Juden ist die Freiheit, über ihr Jude-Sein selbst entscheiden zu können, ein falsches Versprechen. Ein Bewusstsein von dieser Situation zu haben, anstatt sie zu verleugnen, macht nach Sartre, ohne jedes Werturteil, den authentischen Juden aus.

Drittens, dem Antisemitismus ist die Todesdrohung inhärent. Die Juden werden als mächtig, als heimliche Strippenzieher des Weltgeschehens, als Verantwortliche für alles Schlechte und damit als das ultimative Böse imaginiert. Anders als etwa im Rassismus oder in der Misogynie, wo die Objekte der Projektion noch einen Platz in der Welt haben, den sie nur nicht verlassen dürfen, müssen im Antisemitismus die Juden und alles Jüdische zwangsläufig aus der Welt geschafft werden. Die antisemitische manichäische Weltanschauung führt zur Vernichtung um der bloßen Vernichtung willen. Auschwitz, und das macht die Shoah bis heute beispiellos, hat gezeigt, dass auf die Vernunft und auch nur den Selbsterhaltungstrieb der Täter kein Verlass ist. Um es mit Sartres Worten zu sagen: 'Was [der Antisemit] wünscht, was er vorbereitet, ist der Tod des Juden' (2010:33).

Améry verwendet bewusst den Begriff 'Katastrophenjude' (['Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein', in: 'Werke', Bd. 2, hg. v. Gerhard Scheit, Stuttgart: Klett 2002, S. 149-177, insb. S.] 168). 'Denn jeder Jude ist der ›Katastrophen-Jude‹', schreibt er, 'einem katastrophalen Schicksal ausgeliefert, ob er es erfaßt oder nicht' (['Der ehrbare Antisemitismus', in: 'Werke', Bd. 7, hg. v. Stephan Steiner, Stuttgart: Klett 2005, S. 131-140, insb. S.] 136).

Über den Antisemitismus unabhängig davon, wie sich die Juden real verhalten, führt er in seinem Essay Der neue Antisemitismus (1976) aus: 'Dem Antisemiten ist der Jude ein Wegwurf, wie immer er es anstelle: Ist er, gezwungenermaßen, Handelsmann, wird er zum Blutsauger. Ist er Intellektueller, dann steht er als diabolischer Zersetzer der bestehenden Weltordnung da. Als Bauer ist er Kolonialist, als Soldat grausamer Oppressor. Zeigt er sich zur Assimilation an ein je in Frage kommendes Wirtsvolk bereit, ist er dem Antisemiten ein ehrvergessener Eindringling; verlangt es ihn nach jener neuerdings so gefeierten ›nationalen Identität‹, nennt man ihn einen Rassisten' (['Der neue Antisemitismus', in: 'Werke' Bd. 7, hg. v. Stephan Steiner, Stuttgart: Klett 2005, S. 159-167, insb. S.] 163). Ganz egal also, was der Jude tut, der Antisemit hasst ihn weiterhin. Der Antisemitismus ist nach dem Zweiten Weltkrieg nicht einfach verschwunden. Er besteht fort, und ein neuer Versuch der Judenvernichtung ist keinesfalls ausgeschlossen. Obwohl sich vor der Shoah niemand vorstellen konnte, dass ein derartiges Verbrechen möglich sein konnte, ist heute klar, dass es wieder geschehen kann, solange seine Ursachen nicht beseitigt sind und der Antisemitismus weiter besteht. Améry stellte 1966 fest: 'Es kann ja sein, aber es läßt sich angesichts der gegebenen Umstände keinesfalls damit rechnen, daß in den Todesfabriken der Nazis der letzte Akt des großen historischen Dramas der Judenverfolgung gespielt wurde. Ich glaube, die Dramaturgie des Antisemitismus besteht weiter. Eine neuerliche Massenvernichtung von Juden kann als Möglichkeit nichtausgeschlossen werden' (['Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein', in: 'Werke', Bd. 2, hg. v. Gerhard Scheit, Stuttgart: Klett 2002, S. 149-177, insb. S.] 174)".

(7) Jean Améry: "Der ehrbare Antisemitismus", in: Die Zeit, Nr. 30/1969: "Und nun wird jeder Freund von der Linken mir sagen, auch ich reihte mich ein in die grosse Armee derer, die mit sechs Millionen [...] Ermordeter Meinungserpressung treiben. Das Risiko ist einzugehen: Es ist geringer als das andere, welches die Freunde mir proponieren, wenn sie für die Selbstaufgabe des 'zionistischen' Israel plädieren. Die Forderung der praktisch-politischen Vernunft geht dahin, dass die Solidarität einer Linken, die sich nicht preisgeben will (ohne dass sie dabei das unerträgliche Schicksal der arabischen Flüchtlinge ignorieren muss), sich auf Israel zu erstrecken, ja, sich um Israe zu konzentrieren hat".

(8) Jean Améry: "Zwischen Vietnam und Israel. Das Dilemma des Engagements" [1967], zitiert nach: "sans phrase", Nr. 23, März 2024: "Wie weit war ich - jenseits natürlich aller unmöglichen Vergleiche - entfernt von [Jean-Paul] Sartre? Wie weit von [Hans Magnus] Enzensberger und allen linksintellektuellen Engagierten, für die der Bestand des Staates Israel ein 'Problem' zwar ist, aber keine Sache ihres eigenen Platzes in der Welt? Sternweit. Wir, die wir als Träger jüdischen Schicksals - wir mögen Voll- und Glaubensjuden sein oder total assimilierte Atheisten - uns haben erkennen müssen, sind, seit Israel sich in Gefahr befindet, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, die gestern die unsrige war. Wir stehen, sofern wir jedenfalls der Generation angehören, die Hitlers Verbrechen im Fleische erfuhr, wiederum so allein da wie zwischen 1933 und 1945. Wir können nicht mehr wählen, konnen uns nicht mehr wählen: Denn wir wurden schon gewählt, als Opfer, und es bestehen manche Aussichten, daß wir die damals uns auferlegte Rolle noch einmal werden spielen müssen".

 

(9) "Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein" [EA "Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten", München: Szczesny 1966], in: "Werke", Bd. 2, hrsg. von Gerhard Scheit, Stuttgart: Klett 2002, S. 149-177, Zitate S. 153ff. (zitiert nach Marlene Gallner, a.a.O., 2023, S. 122f.): "Es fing erst an, als ich 1935 in einem Wiener Café über einer Zeitung saß und die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte. Ich brauchte sie nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat [...] hatte mich soeben in aller Form und in aller Deutlichkeit zum Juden gemacht, beziehungsweise sie hatte meinem früher schon vorhandenen, aber damals nicht folgenschweren Wissen, daß ich Jude sei, eine neue Dimension gegeben. [...] Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wo er rechtens hingehörte, und dabei ist es in vielen Varianten, in manchen Intensitätsgraden bis heute geblieben. [...] Die Welt war einverstanden mit dem Platz, den die Deutschen uns zugewiesen hatten, die kleine Welt im Lager und die große draußen, die nur in seltenen und heroischen Einzelfällen sich protestierend erhob, wenn man uns in Wien oder Berlin, in Amsterdam, Paris oder Brüssel nachts aus den Wohnungen holte. [...] Menschenrechtserklärungen, demokratische Konstitutionen, die freie Welt und die freie Presse. Nichts kann mich wieder einwiegen in einen Sicherheitsschlaf, aus dem ich 1935 erwachte".

 

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