Erich Mühsam, Niederschönenfeld: "Eine Chronik in Eingaben" (über Ernst Müller-Meiningen)

mit Bezug zu: Kurt Wagenseil, Hans B. Wagenseil, Grete Lichtenstein, Fanal-Verlag

 

Erich Mühsam, Niederschönenfeld: "Eine Chronik in Eingaben", in: "Literaten an die Wand. Die Münchner Räterepublik und die Schriftsteller. Oskar Maria Graf. Erich Mühsam. Gustav Landauer. Ernst Toller. Eugen Leviné. Ret Marut. Ernst Nietisch. Albert Dandistel. H.F.G. Bachmair. Erich Wollenberg. Jakob Haringer. Rudolf Hartig. Alfred Wolfenstein", hrsg. von Hansjörg Viesel, Frankfurt/M.: Gutenberg [1980], S. 205ff.

Insgesamt im Manuskript neun Seiten, "Vorw. Mschschriftl. Msk. aus d. Jahr 1924, bisher unveröff." ("Meid - Phil", Band 17 von "Lexikon deutsch-jüdischer Autoren", hrsg. von Archiv Bibliographia Judaica e.V. Frankfurt: Walter de Gruyter, 2009, S. 183).

Abb. ehemaliges Zisterzienserinnenkloster, jetzt Justizvollzugsanstalt Niederschönenfeld, von "Strahlen.schutz" 2020, unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 (modifiziert).

S. 205: "Meinem Kampf- und Haftgenossen August Hagemeister als Denkmal.

Durch die Verurteilung Hunderter von Proletariern zu Festungsstrafen wegen ihrer Beteiligung an der Räterevolution im April 1919, die man, um sie noch irgendwo strafrechtlich einordnen zu können, als ›Hochverrat‹ bezeichnete, die bayerische Regierung, eine Koalition von Sozialdemokraten, Bauernbündlern, Demokraten und klerikalen Partikularisten, in die fatale Lage geraten, einfachen und unverwöhnten Arbeitern eine Haftform angedeihen lassen zu sollen, die für ›Kavaliere‹ ersonnen war und bisher fast nur in Anwendung kam, wenn ein königlicher Offizier oder ein Korpsstudent seinesgleichen im Duell oder, wie der Leutnant Brüsewitz, in besoffenem Zustand einen Proleten bei einer Straßenrempelei umgebracht hatte.

Als Justizminister wirkte in dieser Koalition ein gewisser Müller aus Mühlhof in Bayern, der sich, um sein Ansehen zu erhöhen, den Namen Müller-Meiningen beilegte. So errang er, unterstützt von seiner einzigen überragenden Fähigkeit, sich höher zu schätzen als irgendeinen anderen Menschen, höher auch, als irgendein Mensch ihn zu schätzen sich imstande sah - eine Fähigkeit, die ihm schon zu Dr. Sigls Zeiten das Kennwort ›Pimperl Wichtig‹ eintrug -, hohe Würden und wohldotierte Ämter. Seine geschichtliche Stunde erlebte dieser Demokrat in jener denkwürdigen Reichstagssitzung vom 10. April 1916, als Karl Liebknecht den Kriegsanleiheschwindel als Karussellunternehmen kennzeichnete und deshalb tätlich insultiert wurde. Unter den in Patriotismus entflammten Bewilligungshelden, deren Geduld schon viel ertragen hatte, aber bei der Berührung der allerheiligsten Gefühle im Geldpunkt denn doch riß, befand sich vornedran Pimperl Wichtig, welcher im Siegesbewußtsein, zu Dutzenden gegen einen einzigen zu kämpfen, den umdrängten und an jeder Bewegung gehinderten Karl Liebknecht mit der Faust bearbeitete. 'Zugeschlagen hat nur Müller-Meiningen', hat mir tags drauf Liebknecht selbst bestätigt, den ich nach dem Verlauf des Vorfalls fragte".

S. 205f.: "Die Revolution fand den Müller voll und ganz auf dem Boden der Tatsachen. Aus seinem Erinnerungsbuch 'Aus Bayerns schwersten Tagen' ist zu entnehmen, daß er schon zu [Kurt] Eisners Lebzeiten in dauernder Verbindung mit Erhart Auer stand, der mit seinem sozialdemokratischen Anhang seufzend das Kreuz trug, ohne Minister der demokratischen und Bayrischen Volkspartei regieren und sich dauernd mit Eisner und den Unabhängigen im Ministerium herumschlagen zu müssen. Als Eisner von Auers jugendlichem Protegé, dem Grafen Arco [Anton Graf von Arco auf Valley], ermordet wurde und in direkter Wirkung dieser konterrevolutionären Provokation das Proletariat die bayrische Räterepublik errichtete, erwartete Müller-Mühlhof-Meiningen, vor dem Spiegel Courage übend, das grausame Los des Bürgers de Launy, des Kommandanten der Bastille, der als erstes Opfer der entfesselten Volkswut am 14. Juli 1789 von den Parisern gelyncht wurde. Da jedoch das bayrische Proletariat leider verabsäumt hatte, den intriganten Machenschaften der bürgerlichen und sozialdemokratischen Revolutionsspekulanten auch [...] einige Aufmerksamkeiten zu schenken, da ferner kein Mensch bisher Anlaß gefunden hatte, dem Bürger Müller einen Bruchteil der Wichtigkeit beizu[messen?], die er selbst sich zuerkannte, blieb ihm - wie übrigens sämtlichen Müller[meiers?] und Auerochsen - das Schicksal des Marquis de Launy erspart, und es gelang ihm, nachdem die von den Sozialdemokraten Noske und [Ernst] Schneppenhorst engagierten kaiserlichen und königlichen Generäle mit dem Landsknechtstroß der Freikorps, nationalen Studenten und deklassierten Offizieren München ›befreit‹, will sagen: unter Mord, Totschlag, Plünderung, Schändung und Brandschatzung grauenvoll unter dem Münchner Proletariat gehaust hatten, den noch unerledigten und für den Sieger im Bürgerkrieg gefahrlosen Teil der Revolutionsliquidation zur gefälligen Justizifierung zu kriegen".

S. 206: "Zu diesem Behufe wurden Standgerichte eingesetzt, in welchen königliche Richter nebst königlich-wittelsbacherischen Offizieren die Frage ›rechtlich‹ zu entscheiden hatten, ob die von dem nach Bamberg getürmten sozialdemokratischen Rumpfkabinett Hoffmann-Schneppenhorst-Segitz [Johannes Hoffmann, SPD, ist Ministerpräsident und Minister für Äußeres und Kultus; Martin Segitz, SPD, Minister für Soziales; Ernst Schneppenhorst, SPD, ist bis 25. 8. 1919 Militärminister] repräsentierte, von keiner Verfassung und von keiner legalen Proklamation gestützte demokratische Republik oder die von den bayrischen Arbeitern und Bauern kraft revolutionären Rechtes ausgerufene Räterepublik als rechtsmäßig anzusehen sei. Die von der Regierung Hoffmann-Schneppenhorst-Müller-Meiningen eingesetzten Standgerichte entschieden - sieh mal an! -, daß die Regierung Hoffmann-Schneppenhorst-Müller-Meiningen die richtige sei. Dessen zur Bekräftigung verurteilten sie Eugen Leviné und acht Rotgardisten zum Tode (Begnadigungen wurden von dem dafür zuständigen Justizminister Müller nicht beliebt) und viele hunderte revolutionäre Kämpfer zu Zuchthaus-, Gefängnis- und Festungsstrafen. Die Verfolgung, geschweige Verurteilung der Mörder Gustav Landauers, Josef Sontheimers, Rudolf Eglhofers und der hundert übrigen proletarischen Opfer des weißgardistischen Lynchterrors, der Plünderer und Leichenfledderer wurde von keinem Müller angeordnet oder vermißt. Mit welcher - sagen wir - Unbefangenheit die Müller-Justiz vorrevolutionäre Paragraphen quetschte, um konterrevolutionäre Tatsachen zu schaffen, habe ich in meiner Eingabe vom 14. Dezember 1921 an den Reichsminister der Justiz betreffend 'Nachprüfung der Rechtsgrundlagen bei der Verhängung des Standrechts in Bayern am 25. April 1919 und der Anwendung des Paragraphen §81 Abs. 2 RStGB gegen die bayerischen Räterepublikaner' - unter dem Titel 'Das Standrecht in Bayern' 1923 als Broschüre erschienen, VIVA, Berlin [epub.ub.uni-muenchen.de] - dargetan".

S. 208: "Ich hatte schon im Herbst 1919, als die Müllerschen Praktiken erst anfingen, sich auszuwirken, ein andres Mittel versucht, die Öffentlichkeit gegen die Rechtsbrüche des Pimperl Wichtig zu alarmieren, nachdem ein fünftägiger Hungerstreik der Festungsgefangenen in Ansbach mangels ausreichender moralischer Unterstützung außerhalb der Kerkermauern ergebnislos abgebrochen war; ich hatte zwei Staatsanwälten gegenüber ihren Vorgesetzten, den Justizminister, als ehrlosen Lumpen bezeichnet mit dem Hinzufügen: Bitte, sagen Sie ihm das, damit ich es vor Gericht beweisen kann. - Tatsächlich wurde ich, zusammen mit Hagemeister, in Ansbach deswegen vor Gericht gestellt. Die Verhandlung dauerte zehn Stunden, in denen ich meinem Herzen reichlich Luft machen konnte, doch wurde der Verlauf dieses wichtigen Prozesses von der proletarischen Presse in völliger Verkennung der Bedeutung dieser für Müller-Meiningen katastrophalen Verhandlung überhaupt nicht ausgewertet. Hagemeister wurde freigesprochen; ich erhielt zwei Monate Gefängnis, die ich in Ansbach abgesessen habe. Charakteristisch für den Betrauer des Rechts ist, daß er bei der Vorbereitung des Prozesses seine Eigenschaft als oberster Zensor der Festungsanstalt dazu ausnutzte, sich meiner Korrespondenz mit den Festungsgefangenen in anderen Anstalten zu bemächtigen, und Briefe, in denen ich um zu meiner Verteidigung wesentliche Aufschlüsse bat, zurückhielt. Ebenso verfuhr er sogar mit Briefen meines Verteidigers an Gefangene, die als Zeugen in Frage kamen".

S. 209: "Müller-Meiningen erhielt im Sommer 1920 von [Gustav von] Kahr den Tritt, der dem völkischen Konterrevolutionär Dr. [Christian] Roth das Amt des Justizministers frei machte [Amtsantritt 16. Juli 1920 unter Kabinett Gustav von Kahr II]".

 

Ernst Müller-Meiningen, geb. am 11. August 1866 in Mühlhof bei Schwabach; gest. am 1. Juni 1944 in München, war bayerischer Justizminister, Amtsantritt 31. Mai 1919 unter Kabinett Johannes Hoffmann II und am 16. März 1920 unter Kabinett Gustav von Kahr I, Senatspräsident am Bayerischen Obersten Landesgericht und Reichstagsabgeordneter, Mitglied der Freisinnigen Volkspartei (FVp) bis 1918, dann der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), von 1920 bis 1928 Präsident des Fussballclubs TSV 1860 München, 1924 Rückzug aus der Politik, 1934 Ruhestand. Schriften: "Diplomatie und Weltkrieg. Ein Führer durch die Entstehung und Ausbreitung der Weltkrisis auf Grund der amtlichen Materialien", Berlin: Reimer 1917; "Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit", Berlin: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger 1923 [digital.wlb-stuttgart.de].

Ob der "RA. Müller-Meiningen" in der Wiedergutmachungsakte von Kurt Wagenseil derselbe ist wie "Pimperl Wichtig" ist unklar.

 

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