Kurt Wagenseil 1904-1988: IX. Prozessakten 1951 (reparation trial files)

[ Kurt Wagenseil: Inhaltsverzeichnis ]

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IX. Prozessakten 1951:

I. Die beiliegenden Briefe

Den Prozessakten des Landgerichts München I, Entschädigungskammer, EK 28/51, liegen bei Briefe von Karl Dachgruber (eidesstattliche Erklärung, "München, den 28/März/1947 Türkenstraße 33/I [Seitenbau]"), Wally Wolff ("São Paulo, 23/X/46"), Franzi Schneidhuber geb. Wassermann ("München-Boghan, 20. März 1947"), Dr. Max Zenger ("München, 18.III 47"), Peter Zingler ("Rowohlt Verlag GmbH [...] 17. März 47"), Hans B. Wagenseil ("Zeugenaussage [...] Utting a. Ammersee, den 15. Juni 1951"), Ferdinand Wagenseil ("Bescheinigung [...] Gießen, 23. Juni 1951"), Harold Nicolson (21. Juni 1951, mit Übers.), J.A.B. Grotrian ("Donn[!]ington Cottage Chichester 22. Juni 1951", "with best wishes to you and Ellen and my godson", mit Übers. handschriftl. ergänzt mit "Zeitungsverleger, Rundfunkkommentator und Teilnehmer der Mount-Everest-Expedition 1933"), Dr. Robert Bandorf ("München 2, den 19. Juni 1951" [Rechtsanwalt 1935]).

 

(1) Die weitere Inhaftierung 1939 erfolgt aufgrund einer Denunziation durch Karl Dachgruber, der am 21.3.1939 in Mannheim wegen Diebstahl festgenommen worden war: "1. Wagenseil hätte in London mehrere Artikel gegen das 3. Reich geschrieben. 2. Er wüßte eine Paßfälscherzentrale in Berlin. 3. Wagenseil unterhalte eine komm. Zentrale. 4. Er hätte ihn zur Auswanderung nach der Schweiz verleiten wollen. 5. Er hätte den best. Eindruck, daß W. eine Auswandererzentrale unterhalte. 6. W. hätte ihn mit einem englischen Flieger-Offizier zusammengeführt namens Grotrian, der in geheimer Mission hier war, um ihn zur Auswanderung nach Brit.-Columbien zu verleiten. Grotrian sei ein Schwuler. Auf Grund dieser Angaben befand sich Wagenseil vom 25. Mai - 18.Sept.1939 bei der Gestapo in Untersuchungshaft. Er mußte wieder frei gelassen werden, weil sich seine Unschuld herausgestellt hatte" (München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 67, [S. 10]). Kurt in seinem einleitenden Schreiben dazu: "Ich konnte nur noch in der Schweiz und indirekt über meinen Bruder publizieren. 1939 wurde mir auf der Rückkehr von England auch noch mein Auslandspaß abgenommen." (München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 5).

Eine eidesstattliche Erklärung durch Karl Dachgruber von 1947 (handschriftlich: "K.Z.-Häftling N. 6816") stellt den Sachverhalt so dar, dass Dachgruber und Wagenseil bereits 1935 gemeinsam in Dachau interniert wurden, demnach wollte Wagenseil Dachgruber 1939 tatsächlich eine Auswanderung ermöglichen, Dachgruber wurde aber "trotz aller Vorsichtmaßnahmen" auf der Flucht verhaftet, "[d]ie Gestapo München versuchte durch die bereits bekannten Methoden und Gewaltmaßnahmen von Herrn Kurt Wagenseil unbedingt in den Besitz von wichtigem Material zu kommen, was jedoch durch die übereinstimmenden Aussagen meiner- und seinerseits nicht möglich war." (Landgerichte_36490, Bl. 7).

[ Anmerkungen ]

Nach Auskunft von Albert Knoll, Email vom 01.06.2022: "Die Liste, auf der Karl Dachgruber mit der Häftlingsnummer 6816 erscheint, liegt in den National Archives, Washington. Daraus geht hervor, dass Dachgruber vom 2.1. - 14.6.1935 im KZ Dachau inhaftiert war." Geboren wurde er am 11.11.1911 in München (Bad Arolsen, 130429068: Alphabetisches Zugangsbuch der Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau von 1933-1935).

In der Türkenstraße 33 in München befand sich das Gasthaus Allotria, in dem ab 1898 bereits Max Halbes Kegelclub "Unterströmung" residierte (1992 abgelöst durch Café Puck), vgl. Fromm et. al: Literaturgeschichte Münchens, 2019, S. 306.

 

(2) Zu Franziska Ida Schneidhuber: "Franzi", geb. 07. Juni 1892 in München, Tod 1978 (85-86), Tochter von Franz Wassermann und Amalie Wassermann, Ex-Ehefrau von NSDAP-Politiker und SA-Führer August Schneidhuber (Scheidung 1920, Tod im Kontext der Mordserie der sog. "Röhm-Affäre" 1934), Wikipedia: "Franziska Schneidhuber wurde während des Zweiten Weltkriegs als prominenter Häftling Ende Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie im Mai 1945 befreit wurde" (s.a. Elsa Bernstein: Das Leben als Drama. Erinnerungen an Theresienstadt. Dortmund: Edition Ebersbach, 1999; Toby Haggith, Joanna Newman. Holocaust and the Moving Image: Representations in Film and Television Since 1933, 2005).

In ihrem Brief von 1947 (München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 12) schreibt sie: "Meine Familie und ich selbst sind mit der Familie Wagenseil und auch mit Herrn Kurt Wagenseil ungefähr zwanzig Jahre bekannt und befreundet. Mein verschollener Bruder Dr. Paul Wassermann war u.a. der bestellte Vormund von Herrn Kurt Wagenseil. Herr Kurt Wagenseil war die erste Zeit nach der Schule und Gymnasium in einer Münchner jüdischen Firma (Adler) tätig, später dann in Berlin in einer Gemälde-Galerie. In der Folge war er sehr viel im Ausland, wohl zumeist in Frankreich und England [...]. Herr Kurt Wagenseil, sowie seine übrige Familie, sind uns von Anfang an als kompromisslose Gegner des Dritten Reichs bekannt, die ihre sämtlichen jüdischen Freunde die ganzen Jahre hindurch in jede[r] Beziehung die Treue gehalten haben. Mir ist bekannt, daß Herr Kurt Wagenseil u.a. der Familie Berthold Wolf in München in aufopfernder Weise zur Auswanderung nach Brasilien und Mitnahme ihres Eigentums verholfen hat."

[ Anmerkungen ]

Paul Franz Wassermann (geb. 3. März 1887) erbte 1915 die Millykerzen- und Seifenfabrik in der Fraunhoferstraße 30 in München von seinem Vater, 1938 wurde die Firma arisiert, Paul am 20. Nov. 1941 deportiert und am 25. November in Vilijampole in Kaunas, Litauen, ermordet (vgl. auch Projekt Gedenkbuch München). Zur Vormundschaft: Armin Wagenseil, Kurts Vater, starb 1913, als Kurt neun Jahre alt war.

Zu Firma Adler: Wahrscheinlich handelt es sich - die Informationen aus den Briefen Franzis und Wallys zusammengenommen - um die Fa. Adler KG von Karl Adler, dessen Ermordung gelistet ist in den "Materialien für Lernende" der Bundeszentrale für politische Bildung "Die inszenierte Empörung. Der 9. November 1938", 2. Das Ereignis. Die Pogromnacht in Zahlen und Übersichten, M 7. Todesfälle im Zusammenhang mit dem Pogrom in München, Bonn 2010, S. 18: "22. November 1938. Karl Adler, geb. 9. September 1873 in München, Unternehmer, bis 15. August 1938 Inhaber der Fa. Adler KG, Bettfedernfabrik (Kreitmayrstraße 5) mit 77 Angestellten und Arbeitern, letzte Wohnung: Lessingstraße 6, verheiratet mit Emilie, geb. Silbermann (geb. 1886, Emigration im März 1939 nach Palästina), fünf Kinder." Emilie verstarb am 24. Dezember 1974 in Herzliya, Tel Aviv District, Israel.

Vgl. auch Catrin Lorch: Die Rolle der Kunsthistoriker. Experten für Plünderungen, Die Süddeutsche, 30. Juni 2016: "Karl Adler, der Besitzer einer florierenden Bettfedernfabrik in München, hatte einen hervorragenden Geschmack, was Kunst angeht. Während Münchner Großbürger in den Zwanzigerjahren in ihren Wohnungen Landschaftsgemälde aufhängten und Nymphenburger Porzellandoggen aufstellten, rahmte er Zeichnungen von Max Slevogt, Radierungen von Max Klinger oder Alfred Kubins Lithografien, den 'Gestiefelten Kater' oder die 'Diplomaten'. Kurz nach der Reichspogromnacht am 11. November 1938 - in München waren die Scherben der zertrümmerten Schaufenster jüdischer Geschäfte noch nicht aufgekehrt - stand die Gestapo bei ihm vor der Tür und hängte seine Bilder ab. Dafür, dass nichts zu Bruch ging und nichts übersehen wurde, sorgten Experten."

Zur Galerie Thannhauser (Name u.a. nach Groeg, a.a.O., 1979/80, S. 651) gibt es eine eigene Seite. "Der Galerist und Kunstsammler Justin Thannhauser [1892-1976] war der Sohn des deutsch-jüdischen Kunsthändlers Heinrich Thannhauser [1859-1934], bei dem die erste Ausstellung des Blauen Reiter (1911) stattgefunden hatte und der ein früher Förderer Pablo Picassos war. Nach Lehrjahren in der väterlichen Galerie [1909 bis 1928 Theatinerstraße 7, München] leitete Justin Thannhauser diese ab 1921. [...] 1927 kam eine Thannhauser-Galerie in Berlin dazu, die ab 1928 als Hauptsitz fungierte [1928 bis 1932 Bellevuestraße 13, Berlin]. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten gehörte die Familie Thannhauser zu den führenden Kunsthändlern Deutschlands. Sie unterhielt zahlreiche Geschäfts- und Freundschaftsbeziehungen, etwa zu Paul Cassirer, Alfred Flechtheim und Daniel-Henry Kahnweiler. 1937 emigrierte Justin Thannhauser von Berlin nach Paris, wohin er seit 1934 Teile seines Kunstbesitzes verlagert hatte; in Berlin zurückgelassene Bestände wurden später beschlagnahmt." (Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin. Ein Provenienzforschungsprojekt, Staatliche Museen zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz, 2016).

 

(3) Zu Wally und Berthold Wolff: Benno Berthold Wolff wurde am 12. August 1876 in München geboren. Er starb in São Paulo, Brasilien am 20. September 1945; Wally Sara Wolff, geb. Figdor, wurde am 27. Dezember 1888 in Wiesbaden geboren. Es ist nur bekannt, dass sie in Brasilien starb (vgl. auch Ron Evans, geni.com). Dem Paar wurde am 4. März 1922 ein Sohn Gottfried geboren, der 1942 starb. In ihrem Brief (München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 8f.) heißt es, dass Kurt bei dessen Auswanderung behilflich gewesen sei, er aber die Verfolgungen nicht verkraftet habe und sein Leben durch die eigene Hand beendete. Wally erwähnt noch dessen Halbbrüder Herbert (geb. 22.03.1913 in München, gest. 1962 in São Paulo) und einen weiteren unbenannten Sohn (Albrecht, geb. 23. Juni 1915). Die Holocaust Survivors and Victims Database (Id 13003679) nennt den Status "Jüdisch, Ausbürgerung mit Beschlagnahmung, Enteignung extra ausgewiesen" (Pfundtner/Berlin: 19400912b-148; Reichsanzeiger, September 12, 1940, b-148; Revoked German Citizenship and Property Seizures 1933-1945). Im Brief heißt es zudem, "[u]eber das traurige Ende meiner armen Schwester kann ich mich nicht trösten, u. was am meisten dabei schmerzt, ist der Gedanke, dass sie nicht verstehen konnte, dass es für uns ganz unmöglich war, sie zu retten". Amalie Lilly Figdor, genannt "Malli", "Mali", geboren am 15. Januar 1898 in Frankfurt, wurde nach ihrer Deportation am 13.3.1943 nach Auschwitz, Polen, ermordet. Daneben heißt es, Bl. 11, "Emilie Adler lebt ihr gleichsam einsames Leben in Palästina". Wally empfiehlt Kurt, "[a]n eine direkte Einwanderung von dort hierher ist nicht zu denken, da ja dort kein brasilianischen Consulate bestehen. Aber wenn Ihnen eine Einreise nach Paraguay möglich wäre, könnten Sie von dort aus wohl leichter hierher kommen. Eine internationale Buchhandlg. hätte hier alle guten Aussichten, meinte [José Antonio] Benton".

[ Anmerkungen ]

Ein Ficha Consular de Qualificação der Republica dos Estados Unidos do Brasil, vom 26. Março 1940 stammt vom "Consulado Geral do Brasil em Hamburgo" (wo Aracy de Carvalho arbeitete, vgl. Doku "Aracy. Der Engel von Hamburg" von Gabriele Rose, arte 2023, online bis 2032). Weitere Angaben sind "Passporte n. 554 expedido pelas autoridades de Bezirksamt Rosenheim na data 29-12-1938", "visado sob. n. 41".

 

(4) Zu John Grotrian (München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 5 nennt ihn aber "Jack") vgl. The Bulletin, London: The Society, 1950, S. 52: "Mr. J.A.B. Grotrian has succeeded to the baronetcy [seit 1934] on the death of Sir Herbert B. Grotrian and is now Sir John Brent Grotrian". Grotrian baronets, of Leighton Buzzard (1934): Sir Herbert Brent Grotrian, 1st Baronet (1870-1951), Sir John Appelbe Brent Grotrian, 2nd Baronet (1904-1984), Sir (Philip) Christian Brent Grotrian, 3rd Baronet (born 1935). John Grotrian (nach Who is Who 2022: 16.02.1904-06.02.1984; Adresse: Raughmere House, Lavant, Chichester, West Sussex); war allerdings kein Teilnehmer der British Mount Everest Expedition 1933.

[ Anmerkungen ]

Vgl. aber David Ryan: "George Orwell on Screen. Adaptations, Documentaries and Docudramas on Film", 2018, S. 118, "Such Such Were the Joys (29. Decembre 1983)": "Sir John Grotrian, a classmate from St. Cyprian's prep school remembers [Eric] Blair as a much-bullied recluse, 'dull, uninteresting [and] unattractive'". Also Orwell und Grotrian gingen in diesselbe Klasse, so dass für diese Sendung über Blair, d.i. George Orwell, der Schulfreund interviewt wird. Nach Bernard Crick: "George Orwell. A Life", London: Secker & Warburg 1980, S. 29 war Grotrian "a year behind him at school" (Anm. 34: "Letter of Nov. 1972 from Sir John Grotrian to author").

Der Brief Grotrians (Bl. 29) ist dahingehend interessant, dass er Kurts "Vorkriegsadressen" nennt: "Du wirst Dich erinnern, dass ich im Febr. 1939 bei dir in München wohnte, kurz vor dem Krieg, aber zu dieser Zeit warst du natürlich bereits seit vielen Jahren ein alter Freund von mir. Ich kann mich an Dich in der Agnesstrasse, der Villa Brückner in Steinebach, in der Gisela- und Georgenstrasse erinnern." Die Agnesstraße 61 findet sich in den Briefen Kurts aus den 1920ern, die Georgenstraße 40 in dem Brief vom 12. Mai 1939 von Hans B. Wagenseil an J.M. Dent & Sons Ltd. im Adresskopf. Die Giselastraße 14 erscheint in Kürschners deutschem Literatur-Kalender, Band 48, 1937/38, Sp. 787 für Kurt und als Absenderadresse von Hans in einem Brief an Anton Kippenberg vom 14.05.1937.

 

(5) Harold Nicolson: Kurt war laut den Prozessakten "Uebersetzer und ehemaliger Privatsekretär des englischen Botschaftsrates und berühmten Schriftstellers Harold Nicolson [...und hatte] Verbindung mit sehr vielen Ausländern, vor allem mit Schriftstellern, Bergsteigern und Journalisten (ich war selbst ein begeisterter Bergsteiger u. Skifahrer)." Außerdem sei er durch seine "Verbindung mit dem Londoner Alpine Club und dem 'Geographical Magazine' mit sehr vielen Leuten bekannt geworden" (München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 3). Nicolson wurde 1928 Charge d'Affaires in Berlin. 1929 verließ er jedoch den diplomatischen Dienst. 1935 zog Nicolson als Abgeordneter der National Labour Party in das Unterhaus ein. Er wurde Parlamentarischer Privatsekretär des Informationsministers in der 1940er Kriegsregierung Winston Churchills. Harold und Kurt trafen sich wahrscheinlich zuletzt 1955.

[ Anmerkungen ]

Vgl. auch James Lees-Milne: "Harold Nicolson. A Biography", Volume I, 1886-1929, London: Chatto & Windus 1980, S. 385 (1929): "The month of December was comparatively free from politcal crises. Sir Horace returned from Taormina on the 12th to take up again hin ambassadorial responsibilities. Much of Harold's time was spent at farewell parties given for him by his closet German friends - Francesco Mendelsohn, the Weissmanns, Frau Luber, Wachendorff (where he had to make a speech), Leopold Plessen and the Erich Mendelsohns. Also tête-à-tête suppers with the Horstmanns, Kurt Wagenseil (who translated some of his books) and Richard Kühlmann. As usual Kühlmann was full of information and confidences about events leading up to the last War in which he played a part [Anm. 48: HN to VSW, 22.11.1929]. [...] He was also entertained at the American Embassy."

Volume II, 1930-1968, London: Chatto & Windus 1981, S. 284 (1955): "On the 19th January Harold, having been invited to an after-dinner party at George Wiedenfeld's, arrived half an hour later than the time specified, to find the dinner-guests still downstairs in the dining-room. He was a stickler for the proprieties. He was annoyed that, not having been invited to dine and having given his host and the other guests what he considered time enough to move to the drawing-room, he should come uopn the party still eating. Unnecessarily perhaps, but suddenly, he lost his temper, and his control. He stormed. He had to be pacified. He causes embarassment. Afterwards he described what happend as a nerve crisis, a temporary seizure of madness. 'Once I do lose control it is like a burst water pipe. And I can't think why, because I was quite happy and cheerful on the way there. Just a nerve storm. But why???' [Anm. 5: HN to VSW (unpubl.), 19.1.1955]. The outburst may have been a pre-sympton of his frist stroke. Five days later he travelled via Harwich and the Hook of Holland to Munich and Bonn. In Germany platform he was greeted by a bevy of Bavarian dignitaries, all dressed in green coats and hats with plumes. They were covered with little Catholic medals and said, 'Grüss Gott!' This pleased him. He stayed in the Hotel Vier Jahreszeiten, which was one of best hotels in the world. He was given a room glowing with central heating and a marble bathroom with a bidet. He had only to press a bell and instantly servants arrived bearing trays with bananas and carnations. He met innumerable old friends, including Graf Albrecht Montgelas, who called on him while he was shaving, and Kurt Wagenseil. The former, released from the Isle of Man by Harold during the war, adored him ever since with a sick and heavy devotion; the latter, now thin, cadaverous and bald, who had translated several of his books, obtained freedom from Dachau through Harold's influence with Otto Bismarck in 1936. Harold met a nice Abbot who assured him that his poor Aunt Clemmie had died in the arms of the Church, for lack for any other arms to die in. With Wagenseil he visited his publisher who lived in a palace and like Franz Josef at Schönbrunn received him in audience with all his stuff assembled. He was given a banquet by the Bavarian Government. The Bavarian Prime Minister arrived, flanked by the obsequious manager of the hotel and his deputy-Prime Minster and the Minister of Education. Harold then gave audience to a posse of journalists".

Edward Felix Norton (geb. 21. Februar 1884 in San Isidro, Argentinien, gest. 3. November 1954 in Winchester, Hampshire; britischer Armee-Offizier und Bergsteiger, auch "Teddy" genannt laut Wikipedia) benennt Kurt in den Prozessakten von 1951 (ebd., Bl. 3) als denjenigen, der ihm das Exemplar des Braunbuchs aushändigte. Dieser nahm an Mount-Everest-Expeditionen 1922 und 1924 teil.

 

(6) Peter Zingler schreibt in seinem Brief (München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 14): "Mit Herrn Kurt Wagenseil war ich während der Kriegsjahre zusammen im Deutschen Verlag. [...] Wagenseil befand sich bei Kriegsausbruch in beklagenswerter Lage. Durch seine antinazistische Einstellung, durch seine einseitige Neigung zur modernen Literatur des In- und Auslandes, war ihm sozusagen der Boden unter den Füssen genommen worden. Es war mir deshalb angenehm, dass ich diesem befähigten Mann eine Stellung vermitteln konnte, wo er entsprechend seiner feuilletonistischen und sprachlichen Fertigkeiten beschäftigt werden konnte. Er reussierte aber bei weitem nicht so, wie man es eigentlich erwarten konnte. Das war in erster Linie seiner politischen Haltung zu zuschreiben. Er versuchte durch kleine Übersetzungen und Feuilletons - ich entsinne mich eines grösseren Artikels über den Maler Gauguin in Tahiti - und vor allen durch Korrekturlesen und drucktechnischen Arbeiten beim Umbruch seine Stellung zu halten. Mit der Zeit wurde er mit Misstrauen betrachtet. Schon sein Typ und seine Lebenseinstellung erweckten Misstrauen. Er wurde immer weniger beschäftigt. So viel ich weiß, wurde sogar sein Vertrag gelöst und in einen losen Mitarbeiter-Vertrag umgewandelt. Wagenseil, sehr frei in seinen 'zersetzenden' Äusserungen, erwartete mit Sehnsucht den Zusammenbruch. Er war immer ausgezeichnet orientiert, da er dank seiner Sprachkenntnisse alles aus erster Quelle hatte. Auf diese Weise konnte er seine Freunde stets auf dem laufenden über die wirkliche Lage halten. Rückblickend gesehen, ist es eigentlich ein Wunder, dass er ohne Schwierigkeiten davon gekommen ist, aber wahrscheinlich sah man in ihm eine ausgesprochen literarische Erscheinung, die nicht ernst genommen wurde. [...]"

 

(7) Weitere Details aus den späteren Seiten der Akte: "Aus einem Schreiben der Gestapo an das Paßamt im Jahre 1938 geht hervor, dass der Kläger ein amtsbekannter Homosexueller war" (München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 18). Hans B. berichtet in seinem Brief (Bl. 24), dass er Cantacuzene noch vor seiner Verhaftung aufgesucht habe, um ihn "zu veranlassen, die gegen meinen Bruder erhobenen Beschuldigungen zurückzunehmen. Er liess sich jedoch nicht dazu bestimmen und gab bei seiner am nächsten Tag erfolgenden Vernehmung an, ich hätte ihn dazu verleiten wollen, 'die Unwahrheit auszusagen'. Erst Mitte März erhielt ich dann von der Gestapo die Auskunft, mein Bruder könnte doch nicht entlassen werden, da sich ein neues Moment (nämlich Kuppelei im Sinne des Par. 175 auf Grund der letzten Aussagen Cantacuzenes u. eines gewissen Krebs) ergeben habe."

Mutter Malvine erkrankte, laut dem Brief des ältesten Bruders Ferdinand (Bl. 25), "durch die furchtbaren Aufregungen des Jahres 1935 an einer schweren Nervenlähmung, die einen 18monatigen Krankenhaus-Aufenthalt bedingte. Die zweite Verhaftung meines Bruders wurde ihr verheimlicht, man machte sie glauben, mein Bruder sei nach England geflüchtet. Ich kann als Arzt versichern, dass die vorher völlig gesunde Frau durch all diese Ereignisse eine irreparable Dauerschädigung ihres Gesundheitszustands erlitt." Die Mutter hatte denn auch einen Brief an Harold Nicolson geschrieben.

 

II. Die Verhandlungsabschrift

(8) Seinen eigenen Lebenslauf schildert Kurt laut Verhandlungsabschrift folgendermaßen (Bl. 34f.): "Mein Vater war Spediteur in München. Ich besuchte zuerst die Volksschule in München, dann das Realgymnasium, ohne das Abitur zu machen. Dann war ich 4 Jahre in einem kaufmännischen Betrieb und ging dann ca. 1927 in einen Verlag nach Hamburg. Von 1928/29 betrieb ich Kunsthandel in Berlin. Darauf kehrte ich nach München zurück und betätigte mich bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges freiliterarisch. Während des Krieges (1940 bis 45) war ich in Berlin im Deutschen Verlag tätig. Seit 1945 bin ich wieder in Starnberg. [...] Politisch habe ich mich nie betätigt weder vor noch nach der Machtübernahme. 1934 habe ich politische Artikel in England in der Zeitung 'New Statesman' geschrieben. Ich schrieb diese Artikel bezüglich der Gefahr der Aufrüstung, dann auch wegen der geistigen Unterdrückung, die ich bei wissenschaftlichen Arbeiten sah, wie z.B. bei meinem Bruder wegen rassenpolitischer Forschungen, die er nicht mehr ausführen konnte [Anm.: dieser wechselte 1935 nach seiner Rückkehr aus China von Anthropologie zu Zellbiologie]. Bei mir selbst wurde jeder 3.Artikel, den ich schrieb, vom NS-Regime bemängelt. Ausserdem störte mich die grosse geistige Unfreiheit. Mit dem Röhm-Putsch hatte ich nichts zu tun. Freimaurer war ich nicht, katholisch [siehe unten] bin ich gebunden, früher war ich ein Kirchengänger, jetzt weniger. Ich habe immer für Sprachen etwas übrig gehabt. Ich habe 1925 längere Zeit in Paris studiert. Ich lebte und studierte von Familienzuschüssen. Nach meinem Pariser Aufenthalt lernte ich die englische Sprache. Ich war des öfteren, auch noch vor 2 Jahren in England. Die in Frage kommenden Artikel schrieb ich deswegen, weil mich der Herausgeber des 'New Statesman' [Kingsley Martin seit 1931] bat, sie zu schreiben. Ich gebe zu, dass ich homosexuellen Kreisen nahe gestanden habe. Diese Berührung entstand aus meiner literarischen Beschäftigung. Den auf Seite 3 der Akten des Po.Präs. München [fehlt in der Akte] genannten Werner, der auch noch Raubmörder war, habe ich durch Zufall kennengelernt. Ich bin auch in das Lokal 'Schwarzfischer' [Abschlussbericht Bl. 62 nennt es ein 'Homosexuellenlokal'] gekommen, da auch viele Engländer dorthin gingen und dort verkehrten. Ich bin jetzt [1951] 7 Jahre verheiratet und habe 2 Kinder. Meinen Umgang mit Homosexuellen erkläre ich damit, dass man sich als Literat auch psychologisch für Homosexuelle interessierte, wobei ich nicht in Abrede stellen will, dass eine gewisse Neugierde für diesen Personenkreis eine Rolle spielte."

[ Anmerkungen ]

Vgl. zum Lokal Schwarzfischer Achim Wigand: München MM-City Reiseführer Michael Müller Verlag, 2019: "Im Lokal 'Schwarzfischer' an der Kreuzung zur Dultstraße wie auch an zahlreichen anderen amtsbekannten queeren Treffpunkten fand im Oktober 1934 die erste Großrazzia statt"; Forum Homosexualität München e.V.: 1999 bis 2009. Zehn Jahre Forum Homosexualität München e.V., Lesben und Schwule in Geschichte und Kultur, München 2009, S. 65: "Eine der frühesten Schwulenbars war der 'Schwarzfischer'. Seit Ende der 1920er Jahre warb das Lokal in der Dultstraße 2 um die Leser der homosexuellen Freundschaftsblätter mit 'dezenter, gemütlicher Stimmung bei 1a Wiener Küche'". Dirk Sippmann: Homosexuelle Opfer von staatlicher Verfolgung. Eine Analyse der Entstehung eines kollektiven Gedächtnisses, Hamburg: Diplomica 2012, S. 38: "Diese 'erste im Deutschen Reich durchgeführte Großrazzia gegen Homosexuelle' erstreckte sich in München auf Parkanlagen, Bedürfnisanstalten und die beiden letzten noch geöffneten Lokale[,] in denen viele homosexuelle Männer verkehrten, den Schwarzfischer in der Dultstraße und den Arndthof am Glockenbach. Insgesamt 145 Männer wurden [1934] festgenommen, davon 39 in vorübergehender Schutzhaft festgehalten und zwei Tage später in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Bei den Festgenommenen handelte es sich zumeist um Arbeiter und Strichjungen" (Hervorhebungen im Original).

Laut Christian Wagenseil, 31.08.2022, war Kurt zum Katholizismus übergetreten, nachdem ein protestantischer Pfarrer zu ihm gesagt habe, dass wer im KZ lande, schon auch etwas "ausgefressen" haben werde. Er sei dann wieder ausgetreten (offensichtlich nach 1951).

In den Registern "Index of Signed Articles" der Bände 3 bis 10, "New Series", des "New Statesman" [archive.org], also von 1932 bis 1935, finden sich keine Beiträge unter dem Namen Wagenseil. Die dort als anonym ausgemachten passen inhaltlich nicht (z.B. "X.Y.Z.: 'Confessions of a Freelance Journalist'", Vol. 3, Issue 66, "Saturday, June 18, 1932", S. 791; "Ghost, A: 'The Memoirs of a Ghost'", Vol. 7, Issue 150, "Saturday, January 6, 1934", S. 17; oder "Socialist, A: 'Labour Policy and War'", Vol. 8, Issue 188, "Saturday, September 29, 1934", "Labour's Foreign Policy Supplement", S. 418).

Allerdings findet sich eine Ausnahme: In 1933 listet der "Index" von Vol. 6 einen Text "Few Intellectuals of X, A: 'A Nazi Concentration Camp'" (Issue 131, "Saturday, August 26, 1933", S. 231: "posted to us from a neighbouring country"). Daneben werden einige anonymen Artikel nicht im "Index of Signed Articles" gelistet, aber dafür im "Index of General Articles", z.B. - und das folgende Beispiel ist wegen der Formulierung "I am no German" sicher auszuschließen - "[Kurt von] Schleicher's Political Dream" (Vol. 8, Issue 176, "July 7, 1934", S. 6f., "From a correspondent who has been in close personal touch with General von Schleicher"). Bei insgesamt sechs Artikeln aus dem Jahr 1934 (Vol. 7 und 8) finden sich keine sicheren Hinweise, die eine Autorschaft ausschließen.

Außerdem gibt es im "New Statesman" u.a. Beiträge von deutschen Autoren wie Ernst Toller (Vol. 7, 1934, bis Vol. 12, 1936), Arthur Koestler (Vol. 15, 1938, Vol. 24, 1942; Vol. 34, 1947) und Kurt Hiller (Vol. 8, Issue 199, "Saturday, December 15, 1934", S. 898: "The Death of Erich Mühsam", "recently appeared in Weltbühne"). Erwähnenswert sind zudem die anonymen Gedichte von "Sagittarius" (d.i. Olga Katzin Miller, 1896-1987) und "Astyanax: 'A Nazi Catechism'" (Vol. 18, Issue 461, "December 23, 1939", S. 925f.). Ab 1940 mehren sich anonyme Texte unter Pseudonymen wie z.B. "Watcher" (Vol. 22, 1941, S. 59: "Silent British Statesmen"), "Copywriter" (Vol. 19, 1940; Vol. 22, 1941, S. 288: "Publicity in Wartime"), "Mass-Observation" (Vol. 27, 1943, S. 105: "Vengeance") oder "Subaltern" (Vol. 29, 1945, S. 351: "Herrenvolk").

 

(9) Auf München I, EK 28/51, Landgerichte_36490, Bl. 36 erklärt der Kläger, "dass diese Angaben aus den Pol.Akten [fehlen in der Akte] ein vollkommener Irrsinn seien. Der in dem Bericht aufgeführte Strichjunge war Krebs, ein SS-Mann [auf Bl. 3 nennt Kurt ihn aber einen 'SA-Mann']. Er erklärt ferner, eine Bemerkung über Geldverdienen in England habe er nicht gemacht. [...] Der Kläger führt weiter aus: Cantacuzené war ein Freund von mir [...]. Ich habe viel mit ihm verkehrt. Krebs war das Verhältnis von Cantacuzené. Krebs wohnte dort. Cantacuzené lobte Krebs immer über den Schellen-König. [...]".

Auf Bl. 37: "Er [Cantacuzené] hat in Dachau fast den Verstand verloren, sich mir dort wieder angenähert und seine Aussagen mir gegenüber bedauert. Zu seinem Tod kam es dadurch, dass er sich renitent zeigte und sich weigerte zu arbeiten. Daraufhin wurde er umgebracht. Er hatte vor seinem Tode noch eine persönliche Aussprache mit dem Lagerführer Guthardt in seiner Baracke. [...Genaue Schilderung von Folter und Ermordung...]. Das war am 26.3.35."

Auf Bl. 38: "Warum ich nicht eingezogen worden bin, weiss ich nicht. Ich war dienstverpflichtet und bin erst zum Schluss des Krieges zum Volkssturm eingezogen worden. Ich wurde immer wieder zurückgestellt, warum, weiss ich nicht. Gesund war ich. Ich habe zum ersten Mal 1940 einen Gestellungsbefehl erhalten, wurde aber zum 'Deutschen Verlag' dienstverpflichtet. Ich wurde vorher nicht gemustert. Am 23.5.39 wurde ich in der Sache Dachgruber erneut verhaftet. Dachgruber hatte mich ein Jahr vorher angesprochen und gesagt, er wäre mit mir in Dachau gewesen. Ich traf ihn wieder und er erklärte mir, er werde von der polit.Polizei verfolgt. [...] Dachgruber war als Kommunist im Lager Dachau. Ich habe mit ihm ausgemacht, dass er die Grenze zur Schweiz überschreiten solle, ich gab ihm auch dafür Geld und Ausrüstung, aber er fuhr nicht, sondern hat dafür den Wagen des damaligen Ministerpräsidenten [Ludwig Siebert] geklaut und ist dadurch verhaftet worden. Ich kam in die Sache dadurch hinein, weil er bei seiner Verhaftung den Brief eines Engländers in der Tasche hatte".

Diesmal konnte Bruder Hans helfen (Bl. 39): "Mein Bruder kannte über den RA. Müller-Meiningen den SS-Obergruppenführer Heydrich und intervenierte für mich." Und Kurt gibt eine Aufklärung zu den Vorwürfen aus der Denunziation von 1939: "Die Ziff. 1 stimmt, Ziff.2 des eben verlesenen Schreibens stimmt nicht, ebenfalls ist Ziff.3 unrichtig, Ziff.4 richtig, Ziff.5 wieder unrichtig, Ziff. 6 wieder richtig, aber nicht im Bezug auf Homosexualität."

[ Anmerkungen ]

Das Staatsarchiv München hat Strafvollzugsakten zu Karl Dachgruber und einem Kurt Bierlein (geb. 1919), JVA München 8170 und 9284, wegen "Diebstahl u.a.", mit gegenseitiger Bezugnahme, Hauptverhandlung Dachgruber 24.01.1940, laut handschriftlicher Angabe im März 1940 ins Gefängnis Mannheim überstellt, Hauptverhandlung Bierlein bereits am 15. März 1939, Haft in München-Stadelheim.

 

(10) Jetzt tritt Hans in den Zeugenstand, als einziger angereister Zeuge (entsprechend später eine Quittung für 25 DM Zeugengeld): "Wir haben, solange mein Bruder ledig war, in München zusammen gewohnt. Ich habe jahrelang mit meinem Bruder bei meiner Mutter gelebt, jedenfalls vor der Machtergreifung. Politisch haben sich weder mein Bruder noch ich interessiert. Man fand keinen Anschluss, wenn man seine antinaz. Bereitschaft beweisen wollte. Ich war gegen den NS., weil er ein Feind der Freiheit war. Dass mir z.B. ein Hausmeister vorschrieb, wie ich zu denken habe, ging mir gegen den Strich. Ich hatte eine Antipathie gegen die Reden, die mit Vorsatz eine Massensuggestion hervorzurufen suchten. Die Programmpunkte der NSDAP waren nicht so, dass man sie anerkennen konnte, ganz abgesehen von der persönlichen Abneigung gegen Hitler. Es fiel mir auf, dass alle, die mich - mit wenigen Ausnahmen - zum NS-Regime zu bekehren versuchten, nicht meine Kategorie von Menschen waren. Es waren materialistische Menschen. Ich ging meinen eigenen Weg. Wir waren nicht neutrale Menschen, wir waren unter dem NS-Regime atmosphärisch leidend. Mein Bruder hat sich mir gegenüber politisch auch geäussert, in der Richtung, dass das NS-Regime zum Kriege führe und dass das durch diesen Krieg angestrebte Resultat dem russischen Ergebnis ähneln würde. Dieser Meinung war er, weil die NS-Programmpunkte eine Proletarisierung darstellten. [...]"

[ Anmerkungen ]

Der Vortrag steht in Widerspruch zu anderen Zeugnissen von Hans' Einstellung, und könnte auch dem Bemühen geschuldet sein, jeden Eindruck einer Nähe zu einer kommunistischen Überzeugung zu zerstreuen.

 

(11) Der Abschlussbericht erwähnt (Bl. 64) zur Klärung der Frage des Beginns der Inhaftierung 1935 (23.1. oder 23.2.) eine am 30.1.1935 erfolgte Stellungnahme der Polizeidirektion München, aus der geschlossen wird, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Haft gewesen sei: "Nach einem hier durchgeführten Verfahren unternimmt Wagenseil seine Reisen ins Ausland nur zu dem Zwecke, um homosexuell veranlagte Personen miteinander bekannt zu machen. Außerdem besteht der Verdacht, dass Wagenseil das Ausland, vornehmlich England, mit Greuelnachrichten versorgt. Allen Anzeichen nach handelt es sich bei Wagenseil um einen Kommunisten. Zst. sind hier Erhebungen wegen der von Wagenseil ausgesprochenen Morddrohungen gegen Reichsminister Dr. Göbbels eingeleitet."

Bl. 65 kommt bezüglich Kurts Einstellung zu dem Schluss: "Daß der Kläger als überzeugter Gegner des NS-Regimes angesehen werden muß, wird durch das vorliegende Berweismaterial zur Genüge erhärtet und auch der Vertreter des beklagten Freistaats hat erklärt, dies nicht zu bestreiten. [...] Der Kläger hat diese Einstellung auch nach außen hin unzweideutig an den Tag gelegt, und zwar in Wort und Tat (abfällige mündliche Äußerungen, insbesondere gegen den ehem. Reichsminister Dr. Goebbels, Veröffentlichung NS-feindlicher Artikel in einer englischen Zeitschrift, Fluchthilfe an einen Feind des NS-Regimes). Demgegenüber fällt die gelegentliche Veröffentlichung von Übersetzungen englischer Artikel im 'V.B.' [Völkischer Beobachter] ebensowenig ins Gewicht wie die Tatsache, daß der Kläger, um trotz der erlittenen KZ-Haft einen Reisepaß zu erlangen, durch seinen Anwalt erklären ließ, er stehe vollkommen auf dem Standpunkt des 3.Reiches, und gleichzeitig ein an Dr. Goebbels gerichtetes Empfehlungsschreiben der dem englischen Faschistenführer Sir Mosley nahestehenden Lady Diana Guiness vorlegen ließ, die er zufällig in Gesellschaft kennengelernt hatte [...; Diana Mosley wurde bei ihrer Rückkehr nach England am 29. Juni 1940 inhaftiert, die Anfrage müsste also nach dem 18. Sept. 1939 und vor diesem Datum stattgefunden haben, die Begegnung mit Diana Guiness scheint 1936 in England durch Lord Berners zustandegekommen zu sein, siehe den Brief von Hans an Katherina Kippenberg vom 17. Juni 1936, bei dem es darum geht, Berners' The Camel zu übersetzen; Anm.]. Es hat sich dabei um Zweckbehauptungen gehandelt, die aus den Umständen heraus verständlich sind und der Achtbarkeit der vom Kläger gezeigten Haltung keinen Abbruch tun. Auch die zugestandenen früheren Beziehungen des Klägers zu homosexuellen Kreisen fallen bei Erwägung aller Umstände, besonders auch der vom Kläger angegebenen Beweggründe, nicht so schwer ins Gewicht, als daß deshalb der Kläger nicht als Träger einer achtbaren politischen Überzeugung im Sinne des § 1 EG und § 1 HEVO angesehen werden könnte, zumal er in Richtung des § 175 StGB niemals strafgerichtlich verurteilt wurde. Zu der Verhaftung des Klägers kam es allerdings vor allem wegen des Verdachts strafbarer Verfehlungen nach § 175 StGB auf Grund der belastenden Angaben des Krebs und Cantacuzène." Am Ende wurden Kurt knapp 2.000 DM Haftentschädigungsgeld bewilligt.

 

Disclaimer: Im Bundesarchiv befindet sich zu Kurt Wagenseil eine Akte Reichskulturkammer (Signatur R 9361 V/11648). Sie enthält eine Anfrage zur politischen Beurteilung vom 6. Juni 1938 und eine erste Antwort vom 14. Nov. 1938, die "nichts Nachteiliges" ausstellt. Dennoch ist unklar, ob es noch zu einer Mitgliedschaft kam, wegen der oben geschilderten erneuten Verhaftung 1939. Außerdem ist die entsprechende Akte von Hans umfangreicher (34 Blatt), enthält etwa einen Fragebogen usw. (Signatur R 9361 V/38973). Sein Antrag ist allerdings bereits vom 17.9.1933. Außerdem gibt es zu Hans B. Wagenseil eine Akte Parteikorrespondenz (Signatur R 9361 II/1174672). Sie enthält einen Antrag auf Mitgliedschaft in die Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen vom 26.06.1941. Keiner der drei Brüder Kurt, Hans B. und Ferdinand Wagenseil war Mitglied der NSDAP. Von Ferdinand gibt es u.a. eine Kartei Reichserziehungsministerium, eine Kartei Reichsforschungsrat und eine Kartei NS-Lehrerbund. Es gibt im Bundesarchiv keine Akte dazu, dass Ferdinand "Förderndes Mitglied SS" war (Martin Unger: "Der Anatom Ferdinand Wagenseil [1887-1967]. Integrer Rassenforscher und Bewahrer der Medizinischen Fakultät Giessen", 1998, S. 106: "Wagenseil behauptete später, nur deshalb Förderndes Mitglied geworden zu sein, weil sein Bruder Kurt Schwierigkeiten mit der politischen Polizei bekam [...]"; Ernst Klee: "Personenlexikon des Dritten Reiches", 2005, S. 649; laut Sabine Hildebrandt: "The Anatomy of Murder. Ethical Transgressions and Anatomical Science during the Third Reich, New York / Oxford: Berghahn, S. 161, sei Ferdinand aber bereits 1933 eingetreten "to appear politically acceptable", "[t]he position of 'supporting member of the SS' involved the payment of a monthly financial contribution, but not an oath to Hitler or any other commitment", 1940 sei er wieder ausgetreten; Hinweis: Das Bundesarchiv möchte über jede Zitation ihrer Dokumente informiert werden).

 

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