"Nachruf auf Ellen Bittmann und das Schnaps & Poesie Theater", in: "Götterbote" Nr. 2 / 2011, S. 21-24.

mit Bezug zu: 1998, 2007, 2011, Marburg, "Indien", "Orient", Querido Verlag (Thomas Mann → Romantik), Gerhard Richter: "Volker Bradke", 1966

 

"Es war an Schillers 206. Todestag, als Ellen beschloss, es war genug. Genug der Schmähungen durch die Kulturbürokratie der Stadt, durch den garstigen Vermieter und durch die Ignoranz der Nicht-Besucher, denen der Sinn fehlt für das besondere Kleinod eines Hörtheaters. Doch genug der Rezitation ihrer Klagen, entscheidender ist die Erinnerung an das, was Ellen Bittmann und Uli Düwert zweimal geschaffen haben: Wie er selbst in einem beeindruckenden Echo ihrer Kunst in Gestalt einer Erzählung es im Raum der Friedhofskapelle bei einer Zusammenkunft zu ihrem Andenken ausdrückte - es war ein spontaner mystischer Raum, ein Zaubertheater.

Während das Ohr durch Klang und Worte in andere Welten - der Dichter und Seher - entführt wird, verliert sich das Auge im bunten Dschungel von Masken, Götterfiguren, Bücherbauten, Dichterskulpturen, Musikinstrumenten, Miniaturkatzen und einem diffusen Allerlei an Fantastischem. Die Geschichte dieses ungewöhnlichen Künstlerpaares fand bereits Eingang in das Reich gedruckter Schwärze; so kann man im 'Marburger Forum' (Herbert Fuchs: Theater in Marburg; in: Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart, Jg. 4 [2003], Heft 4, S. 12f. [online; im Heft auch ein Beintrag Herbert Fuchs: "Novalis' 'blaue Blume' im Marburger 'Schnaps & Poesie'-Theater"]) nachlesen:

'›Wanderschaft‹ könnte als Überschrift über dem Theaterleben von Ellen Bittmann und Uli Düwert stehen. Folkwangschule in Essen; Theaterengagements in Dortmund, Tübingen, Oberhausen, Recklinghausen; ein längerer Aufenthalt in Amsterdam mit Regie-, Choreografie- und Bühnenbildarbeiten am Pantomimetheater ›caroussel‹; die erste Gründung eines eigenen Theaters in Verden: Schnaps & Poesie wurde es genannt nach einem Schlagwort aus der Russischen Oktoberrevolution, und ›poetischen Schnaps‹, an dem sich jeder [...] innerlich ›erwärmen‹ kann, wollten sie bieten, in Eigenregie, ohne die Gängelungen und Einschränkungen eines städtisch-staatlichen Theaterbetriebs. Von 1972-1979 dauerte diese Bühnen-Wanderschaft, bis sie 1980, durch einen glücklichen Zufall begünstigt, auf einem echten Thespis-Wagen auf erfolgreiche Theater-Wanderschaft gingen: Ellen Bittmann und Uli Düwert gründeten in Braunschweig den Komödiantenkarren, mit dem sie fast zehn Jahre lang über das flache Land zogen und in Wirtshäusern und auf Höfen, auf Marktplätzen Hans-Sachs-Stücke und Clownerien vorführten. Parallel dazu eröffneten sie mit Unterstützung der Stadt Braunschweig in einer alten Schmiede, die sie in viel Eigenarbeit herrichteten, ihr Zwei-Personen-Theater, das mit viel beachteten Inszenierungen bald zu einer festen Größe in der Kulturszene der Stadt werden sollte. 90 Inszenierungen entstanden in den Jahren zwischen 1980 und 1996, ihr ›Lebenswerk‹, wie sie sagen. [...] Ohne Ankündigung oder Vorwarnung wurden 1996 die Subventionen, die die Stadt für das Theater in jedem Jahr zur Verfügung gestellt hatte, gekürzt, der Mietvertrag für das Theatergebäude gekündigt: Ellen Bittmann und Uli Düwert mussten ihr Theater schließen, standen buchstäblich auf der Straße. In Zeitungsannoncen suchten sie nach einer Scheune zur Unterbringung der Kulissen und des Fundus, die ihnen allein geblieben waren...'

Diese Scheune fanden sie in Schröck nahe Marburg. Bis 2008 entstanden von Neuem ihre verzaubernden Inzenierungen; 'Der Dichtung heilige Magie', wie eines ihrer Schiller-Programme zu dessen 250. Geburtstag überschrieben war, jetzt in der Mitte der Stadt Marburg, seit 2003 in der Untergasse 12 am Fuß der Oberstadt (vorher und nachher vereinzelt an wechselnden Orten). Doch es wiederholte sich, was bereits in Braunschweig geschehen war.

Während der Griff ins Archiv mir notwendig erschien, um ihre Vergangenheit vor Marburg zu erzählen, überschneidet sich ihre Zeit in Marburg mit der eines kleinen Dichterkreises, deren Begründerin sich mir damals als ›Ophelia‹ vorstellte, als ich hinzustieß. Eine längere Zeit über fanden dessen Treffen in jenem Zaubertheater statt, auch wenn die Auffassungen von dem, was Kunst sei, manchmal unterschiedlich waren. Gelegentlich brachten kleine Generationenkonflikte sowie Kulturmeinungsgefechte auch ein wenig Unfrieden, etwa als Uli Düwert eigenmächtig den Kreis auf folgende Weise bewarb: 'Ist Poesie in der Diktatur...' war die Überschrift, darunter stand: 'von Schlamm- und Knall-Dichtung noch möglich? Den Traum leben, immer wieder den Traum leben'.

Wahrscheinlich lediglich unbewusst zitierte der Schauspieler dabei eine Novelle des vergessenen Vormärz-Dichters Gottlob Leopold Immanuel Schefer (1784-1862). Im 'Sclavenhändler' (1834) klagt ein byronesker reicher englischer Lord, sich im Orient als 'Pascha' versuchend, über das, was ihm fehlt: 'Eigentlich möchte er nur das Leben träumen, und den Traum leben' (Ausgewählte Werke, 5. Theil, Berlin 1857, S. 127). So derb dieser Kontrast wirken mag, vielleicht vermittelt nur ein solcher einen Eindruck von der Idee des Zaubertheaters, die Menschen aus ihrem Alltag herauszuholen und in eine besondere innere Welt zu entführen.

Ihr Programm reichte über die Größen der Romantik wie Novalis, Karoline von Günderrode oder Friedrich Hölderlin sowie solche des deutschen Idealismus hin zu [Jean-Paul] Sartre, Simone de Beauvoir, [Franz] Kafka, [Rainer Maria] Rilke, Gottfried Benn, Jean Cocteau oder Günther Eich. Neben APO und Hippie-Bewegung ist es ihre eigene Philosophie, welche aus ihrer Kunst spricht. Sie nennen diese 'Humanimalismus', ein Mischwort aus 'Humanismus' und 'Animalismus'. Und da steckt wiederum neben dem 'Tier' das lateinische Wort 'anima' für die Seele drinnen.

Tiefer kann nur ein aufmerksamer Blick vermitteln, worum es geht, was sie nahezu wie eine Religion aufleben ließen. Es waren nicht einfach Kompilationen, welche der Gast des Hörtheaters im Vortrag erhielt, eher dichte Klangteppiche, aus Werk und Leben eines vergangenen Seelenverwandten destilliert, erzählen von Hyperions Liebe zu Diotima, der 'ungeheuren Welt' Kafkas oder der Suche nach einer 'magischen All-Einheit eines beseelten Welt-Innenraums' im Werk von Rainer Maria Rilke. Die kunstvoll zusammengestellten Programme verknüpften märchenhafte Motive mit hermetischen Symbolen oder historischen Dichterikonographien auf surrealistische Weise, häufig als eine jenseitige Welt der Poesie, welche durch Schaufenster und Pforte des kleinen Salons hindurchscheint in die profane Welt draußen vor der Tür.

Ellen Bittmann war 44 Jahre als Schauspielern auf 'rauhen Pfaden zu den Sternen', zudem (bis 2010) 33 Jahre als 'Prinzipalin' und 'Muse' des Theaters aktiv; nicht zu vergessen, dass einige der Stücke alleine von ihr konzipiert und hauptsächlich umgesetzt wurden; so das zur Günderrode ('Der Schatten eines Traumes', 'Im Lande der Schatten') oder die Schiller-Programme. Wohl wie bei der Beerdigung [Friedrich] Hölderlins am 10. Juni 1843 regnete es an dem Tag der Gedächtnisfeier immer wieder, damals hielt Christoph Schwab, Sohn des Autors der Sagen-Nachdichtungen, eine Totenrede zwischen Hellenismus und Christentum auf den wahrscheinlichen Mitautor der Neuen Mythologie ('Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus' von 1796). Im Unterschied zu ihm werden auch keine künftigen Reiseführer über ihr Grab zu berichten wissen, irgendwo zwischen anderen Seelen auf einem anonymen Urnenfeld am Marburger Stadtfriedhof. In diesem Schweigen beschließe ich den Nachruf mit einer Gedichtstrophe aus dem Hölderlin-Programm des Schnaps-und Poesie-Theaters: Geh unter, schöne Sonne, sie achteten / Nur wenig dein, sie kannten dich, Heilge, nicht,/Denn mühelos und stille bist du / Über den Mühsamen aufgegangen".

 

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