Simone de Beauvoir - Auszüge

mit Bezug zu: "Warenform", Jean-Paul Sartre, Kurt Wagenseil, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, Göteborg: Daidalos, Theodor W. Adorno ⇆ Beauvoir / Sartre (Renate Göllner, Freiburg / Wien: Ça ira 2019)

Abb. "Jean-Paul Sartre e Simone de Beauvoir desembarcam no Brasil", "Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre landen in Brasilien", 1960, Brazilian National Archives, Accession number BR_RJANRIO_PH_0_FOT_41356_001, Public Domain (modifiziert).

 

Simone de Beauvoir: "Das andere Geschlecht" [EA "Le Deuxiènne Sexe", Paris: Gallimard 1949, auf deutsch Hamburg: Rowohlt 1952], Hamburg: Rowohlt 2003. Erstes Buch "Fakten und Mythen", übers. von Uli Aumüller, zweites Buch "Gelebte Erfahrung", übers. von Grete Osterwald.

Erstes Buch "Fakten und Mythen", erster Teil "Schicksal", 3. Kapitel "Der Standpunkt des historischen Materialismus".

S. 77f.: "Die Theorie des historischen Materialismus hat überaus wichtige Wahrheiten an den Tag gebracht. Die Menschheit ist keine Tierart: sie ist eine historische Realität. Die menschliche Gesellschaft ist eine Antiphysis: sie läßt das Vorhandensein der Natur nicht passiv über sich ergehen, sondern macht sie sich zunutze. Diese Nutzbarmachung ist keine innere, subjektive Operation: sie vollzieht sich objektiv in der Praxis. So kann auch die Frau nicht bloß als geschlechtlicher Organismus gesehen werden, denn nur jene biologischen Gegebenheiten sind wichtig, die im Handeln einen konkreten Wert bekommen. Das Bewußtsein, das die Frau von sich erlangt, wird nicht allein durch ihre Sexualität bestimmt: es spiegelt eine Situation wider, die von der ökonomischen Struktur der Gesellschaft abhängt, einer Struktur, die den Grad der technischen Entwicklung zeigt, den die Menschheit erreicht hat. Ich habe dargelegt, daß die Frau biologisch von zwei wesentlichen Zügen charakterisiert wird: ihr Zugriff auf die Welt ist weniger umfassend als der des Mannes, und sie ist stärker der Art unterworfen. Aber diese Tatsachen bekommen je nach dem ökonomischen und sozialen Zusammenhang einen ganz verschiedenen Stellenwert. In der Menschheitsgeschichte wird der Zugriff auf die Welt nie durch den nackten Körper bestimmt: schon die Hand mit ihrem Greifdaumen überschreitet sich auf das Werkzeug hin, das ihr Können vervielfacht; bereits in den ältesten Zeugnissen der Vorgeschichte tritt der Mann bewaffnet in Erscheinung. Zu der Zeit, als es darum ging, schwere Keulen zu schwingen und wilde Tiere in Schach zu halten, stellte die körperliche Schwäche der Frau einen offenkundigen Nachteil dar: das Werkzeug braucht nur ein wenig mehr Kraft zu erfordern als der Frau zu Gebote steht, damit sie von Grund auf unfähig erscheint. Es kann aber sein, daß die Technik im Gegenteil den Unterschied zwischen der Muskelkraft von Mann und Frau aufhebt: der Überschuß schafft nur im Hinblick auf seinen Bedarf eine Überlegenheit: zuviel zu haben ist nicht besser, als genug zu haben. Die Handhabung einer Vielzahl moderner Maschinen beansprucht zum Beispiel nur einen Teil der männlichen Kraftreserven: wenn das erforderliche Minimum nicht über die Kräfte der Frau hinausgeht, wird sie dem Mann bei der Arbeit ebenbürtig. Tatsächlich kann man heute ungeheure Energieentfaltungen durch einen bloßen Knopfdruck in Gang setzen. Und die Belastungen durch die Mutterschaft haben je nach den Sitten ein sehr verschiedenes Gewicht: sie sind eine Überlastung, wenn der Frau zahlreiche Tätigkeiten auferlegt sind und sie die Kinder ohne Hilfe ernähren und aufziehen muß. Wenn sie ihre Schwangerschaften frei bestimmen kann und die Gesellschaft sie in dieser Zeit unterstützt und sich später um das Kind kümmert, sind die Mutterpflichten gering und können im Arbeitsbereich leicht ausgeglichen werden".

S. 84f.: "Die sexuelle Beziehung der Frau zum Mann ist nicht identisch mit der des Mannes zu ihr, und ihre Bindung an das Kind ist mit keiner anderen vergleichbar. Die Geschlechterdifferenzierung ist nicht erst von dem Bronzewerkzeug erschaffen worden, und die Maschine genügt nicht, um sie abzuschaffen. Alle Rechte, alle Chancen des Menschen allgemein für die Frau fordern heißt nicht, daß man die Augen vor ihrer besonderen Situation verschließen darf. Und um diese kennenzulernen, muß man über den Rahmen des historischen Materialismus hinausgehen, der im Mann und in der Frau ökonomische Entitäten sieht. Daher lehnen wir den sexuellen Monismus [Sigmund] Freuds und den ökonomischen Monismus [Friedrich] Engels' aus dem gleichen Grund ab. Ein Psychoanalytiker wird alle sozialen Forderungen der Frau als Ausdruck 'männlichen Protests' deuten. Für den Marxisten dagegen drückt ihre Sexualität auf mehr oder weniger komplexen Umwegen nur ihre ökonomische Situation aus. Aber die Kategorien 'klitoridal' oder 'vaginal' - sowie 'bürgerlich' oder 'proletarisch' sind gleichermaßen außerstande, eine konkrete Frau zu erfassen. Es gibt einen existentiellen Unterbau, der sowohl die individuellen Dramen wie die Wirtschaftsgeschichte der Menschheit umfaßt und der allein es ermöglicht, diese einzigartige Form - ein Leben - als Ganzes zu verstehen. Der Wert der Freudschen Theorie liegt darin, daß der Existierende ein Körper ist: die Art, wie er sich anderen Körpern gegenüber als Körper empfindet, gibt seine existentielle Situation konkret wieder. Ebenso ist an der marxistischen These wahr, daß die ontologischen Ansprüche des Existierenden Gestalt annehmen, was vor allem jene betrifft, die die Technik ihm eröffnet. Wenn aber Sexualität und Technik nicht in die Gesamtheit der menschlichen Realität integriert werden, können sie allein nichts erklären. Deshalb erscheinen bei Freud die vom Überich aufgestellten Verbote und die Triebe des Ichs als kontingente Fakten. Und in Engels' Abhandlung über die Geschichte der Familie scheinen die wichtigsten Ereignisse unvermutet nach den Launen eines geheimnisvollen Zufalls aufzutauchen. Um die Frau zu entdecken, lehnen wir bestimmte Beiträge der Biologie, der Psychoanalyse und des historischen Materialismus nicht ab, sind aber der Ansicht, daß der Körper, das Sexualleben und die Technik für den Menschen konkret nur existieren, sofern er sie unter der globalen Perspektive seiner Existenz erfaßt. Der Wert der Muskelkraft, des Phallus, des Werkzeugs kann nur in einer Welt von Werten definiert werden: er wird bestimmt durch den grundlegenden Entwurf des Existierenden, der sich auf das Sein hin transzendiert".

Zweiter Teil "Geschichte".

S. 87: "In jedem Fall, wie robust die Frauen damals auch gewesen sein mögen, stellten die Beschwernisse durch die Fortpflanzung im Kampf gegen die feindliche Welt für sie eine ungeheure Behinderung dar [...]. Für die normalen Frauen verminderten Schwangerschaft, die Niederkunft und die Menstruation ihre Arbeitsfähigkeit und verurteilten sie zu langen Perioden der Passivität; um sich gegen die Feinde zu verteidigen, um ihre Versorgung und die ihres Nachwuchses zu sichern, brauchten sie den Schutz der Krieger und die Beute aus der Jagd und dem Fischfang, denen die Männer nachgingen. [...] Sie waren nicht in der Lage, das Leben der Kinder zu sichern, die sie zur Welt brachten. Das ist eine erste folgenschwere Tatsache: die Anfänge des Menschengeschlechts waren schwierig, die Sammler, Jäger und Fischer holten nur eine magere Beute aus dem Boden und mußten harte Anstrengungen dafür aufbringen. Im Verhältnis zu den Ressourcen der Gemeinschaft wurden zu viele Kinder geboren. Die unsinnige Fruchtbarkeit der Frau hinderte sie daran, sich aktiv an der Vermehrung dieser Ressourcen zu beteiligen, während sie unaufhörlich neue Bedürfnisse schuf".

S. 88: "[D]as Gleichgewicht zwischen Reproduktion und Produktion wurde vom Mann aufrechterhalten. [...] Da sich das Gleichgewicht zwischen Produktion und Reproduktion jedoch immer herstellt, und sei es um den Preis von Kindesmorden, Opfern, Kriegen, sind vom Standpunkt des kollektiven Überlebens Männer und Frauen gleich notwendig. Man könnte sogar vermuten, daß in Zeiten des Nahrungsüberschusses die schützende und nährende Rolle der Frau-Mutter ihr den Mann untergeordnet hat. [...] Die Urhorden interessierten sich kaum für ihre Nachkommenschaft. Da sie an kein festes Gebiet gebunden waren, nichts besaßen, sich in keinem beständigen Ding verkörpert sahen, konnten sie keine konkrete Vorstellung des Fortbestands ausbilden. Sie hatten nicht das Anliegen, sich zu überleben, und sie erkannten sich in ihren Nachkommen nicht wieder. Sie fürchteten weder den Tod, noch verlangten sie nach Erben. Kinder stellten für sie eine Belastung und keinen Reichtum dar. Der Beweis dafür ist, daß Kindesmorde bei Nomadenvölkern immer zahlreich waren; viele der Neugeborenen, die nicht umgebracht wurden, starben inmitten allgemeiner Gleichgültigkeit mangels Hygiene".

S. 88f.: "In jedem Fall aber sind Austragen und Stillen keine Akivitäten, sondern natürliche Funktionen. Kein Entwurf ist darin einbezogen: deshalb findet die Frau darin kein Motiv für eine stolze Bestätigung ihrer Existenz; sie erduldet passiv ihr biologisches Schicksal. Die häuslichen Arbeiten, denen sie nachgeht, weil nur sie mit den Belastungen der Mutterschaft vereinbar sind, halten sie in der Wiederholung und in der Immanenz gefangen. Diese Arbeiten kehren Tag für Tag in der gleichen Form wieder, die fast unverändert von Jahrhundert zu Jahrhundert fortbesteht; sie produzieren nichts Neues. Beim Mann ist es völlig anders; er ernährt die Gemeinschaft nicht nach Art der Arbeitsbiene in einem bloßen vitalen Prozeß, sondern durch Akte, die sein Tier-sein transzendieren. Der homo faber* ist von Anbeginn der Zeiten ein Erfinder".

 

* Max Frisch: "Homo faber", Suhrkamp: Frankfurt 1957, ist noch nicht erschienen. Vorher bezeichnete der lateinische Ausdruck im anthropologischen Kontext 'den schaffenden Menschen' oder 'den Menschen als Handwerker', z.B. bei Max Scheler: "Die Stellung des Menschen im Kosmos", Darmstadt: Otto Reichl Verlag 1928.

 

In Kurt Wagenseils Bibliothek vorhanden: vier Werke von Simone de Beauvoir (Hamburg: Rowohlt 1949-56: "Alle Menschen sind sterblich", 1949, "Amerika, Tag und Nacht", 1950, "Das andere Geschlecht", 1952, "Die Mandarins von Paris", 1956), acht Werke von Jean-Paul Sartre (Hamburg: Rowohlt 1949-1965, darunter "Baudelaire. Ein Essay", 1949, "Der Ekel", 1949, von dem vierbändigen Romanzyklus "Wege der Freiheit" Band 1, "Zeit der Reife", 1949, und Band 3, "Der Pfahl im Fleische", 1951; in der Exceldatei fehlt, aber vorhanden war auch: "Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie", Hamburg: Rowohlt 1962).

 

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Personenregister (Übersetzungen etc.)
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