Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: "Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente", New York 1944, Amsterdam: Querido 1947

mit Bezug zu: "Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen" ("Positivismusstreit", Michel Foucault), Willi Münzenberg ("Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror", Paris: Édition du Carrefour, 1933 → Theodor W. Adorno ⇆ Georgi Dimitroff = "Faschismus als 'terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals'"), Theodor W. Adorno ⇆ Simone de Beauvoir / Jean-Paul Sartre (Renate Göllner, Freiburg / Wien: Ça ira 2019), Theodor W. Adorno ⇆ Michel Foucault ("Nominalismusproblem"), "Warenform" (Theodor W. Adorno und Max Horkheimer über Alfred Sohn-Rethel, 1936/7, "Seminar über den Begriff der Dialektik bei Prof. Horkheimer und Prof. Adorno [...] Protokoll der Seminarsitzung vom 19. November 1953"), "Dialektik der Aufklärung" (Amsterdam: Querido, Buenos Aires: Sur, Torino: Einaudi, Frankfurt: Suhrkamp, S. Fischer, New York: Herder and Herder, Paris: Gallimard, London / New York: Verso, 重庆:重庆出版社 = Chongqing: Chongqing Publishing House, Göteborg: Daidalos), "[George] Orwells '1984'" (Adorno / Horkheimer: "Was man nicht mehr denkt, kennt man auch nicht mehr"* ⇆ Michel Foucault: "Das Panoptikon funktioniert als eine Art Laboratorium der Macht"**), Friedhelm Kemp an Adorno, 1964 (Marcel Jouhandeau, Walter Benjamin), Jean AmeryFrankfurt: Edition Voltaire, (West-) Berlin: Merve (Theodor W. Adorno 1971 → Michel Foucault 1976ff.) ⇆ Edition Tiamat (Frankfurt: Syndikat → Wolfgang Pohrt = "Möglichkeit der proletarischen Revolution erloschen", 1976 → Robert Kurz), IHRA 2016, "Adler oder Sonne?", Hamburg: Edition Kritik 2023ff. ("Zeitkern der Wahrheit")

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Theodor W. Adorno / Max Horkeimer: "Dialektik der Aufklärung", Kapitel "Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung", Frankfurt: S. Fischer 2003, S. 177f.:

I

"Der Antisemitismus heute gilt den einen als Schicksalsfrage der Menschheit, den anderen als bloßer Vorwand. Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen. Extrem entgegengesetzt ist die These, die Juden, frei von nationalen oder Rassemerkmalen, bildeten eine Gruppe durch religiöse Meinung und Tradition, durch nichts sonst. Jüdische Kennzeichen bezögen sich auf Ostjuden, jedenfalls bloß auf noch nicht ganz Assimilierte. Beide Doktrinen sind wahr und falsch zugleich.

Die erste ist wahr in dem Sinn, daß der Faschismus sie wahr gemacht hat. Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert. Sie werden vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk. Während es der Herrschaft ökonomisch nicht mehr bedürfte, werden die Juden als deren absolutes Objekt bestimmt, mit dem bloß noch verfahren werden soll. Den Arbeitern, auf die es zuletzt freilich abgesehen ist, sagt es aus guten Gründen keiner ins Gesicht; die N[...] will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden, und im Herzen aller prospektiven Faschisten aller Länder findet der Ruf, sie wie Ungeziefer zu vertilgen, Widerhall. Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis. Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können.

Die andere, die liberale These ist wahr als Idee. Sie enthält das Bild jener Gesellschaft, in der nicht länger Wut sich reproduziert und nach Eigenschaften sucht, an denen sie sich betätigen kann. Indem aber die liberale These die Einheit der Menschen als prinzipiell bereits verwirklicht ansetzt, hilft sie zur Apologie des Bestehenden. Der Versuch, durch Minoritätenpolitik und demokratische Strategie die äußerste Bedrohung abzuwenden, ist zweideutig wie die Defensive der letzten liberalen Bürger überhaupt. Ihre Ohnmacht zieht den Feind der Ohnmacht an. Dasein und Erscheinung der Juden kompromittiert die bestehende Allgemeinheit durch mangelnde Anpassung. Das unabänderliche Festhalten an ihrer eigenen Ordnung des Lebens brachte sie zur herrschenden in ein unsicheres Verhältnis. Sie erwarteten, von ihr erhalten zu werden, ohne ihrer doch mächtig zu sein. Ihre Beziehung zu den Herrenvölkern war die der Gier und der Furcht. Wann immer jedoch sie die Differenz zum herrschenden Wesen preisgaben, tauschten die Arrivierten den kalten, stoischen Charakter dafür ein, den die Gesellschaft bis heute den Menschen aufzwingt. Die dialektische Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft, das Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung, das die Juden bei den großen Aufklärern wie den demokratischen Volksbewegungen zu fühlen bekamen, zeigt sich auch im Wesen der Assimilierten selbst. Die aufgeklärte Selbstbeherrschung, mit der die angepaßten Juden die peinlichen Erinnerungsmale der Beherrschung durch andere, gleichsam die zweite Beschneidung, an sich überwanden, hat sie aus ihrer eigenen, verwitterten Gemeinschaft vorbehaltlos zum neuzeitlichen Bürgertum geführt, das schon unaufhaltsam zum Rückfall in die bare Unterdrückung, zu seiner Reorganisation als hundertprozentige Rasse vorwärts schritt. Rasse ist nicht, wie die Völkischen es wollen, unmittelbar das naturhaft Besondere. Vielmehr ist sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die verstockte Partikularität, die im Bestehenden gerade das Allgemeine ist. Rasse heute ist die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, integriert im barbarischen Kollektiv. Die Harmonie der Gesellschaft, zu der die liberalen Juden sich bekannten, mußten sie zuletzt als die der Volksgemeinschaft an sich selbst erfahren. Sie meinten, der Antisemitismus erst entstelle die Ordnung, die doch in Wahrheit ohne Entstellung der Menschen nicht leben kann. Die Verfolgung der Juden, wie Verfolgung überhaupt, ist von solcher Ordnung nicht zu trennen. Deren Wesen, wie sehr es sich zu Zeiten verstecke, ist die Gewalt, die heute sich offenbart".

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques. notes ]

* Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: "Was man nicht mehr denkt, kennt man auch nicht mehr" [1953], in: "Adorno. Frankfurter Seminare", Berlin / Boston: De Gruyter 2021, S. 159.

** Michel Foucault: "Das Panoptikon funktioniert als eine Art Laboratorium der Macht. Dank seinen Beobachtungsmechanismen gewinnt es an Wirksamkeit und dringt immer tiefer in das Verhalten der Menschen ein; auf jeden Machtvorsprung sammelt sich Wissen an und deckt an allen Oberflächen, an denen sich Macht entfaltet, neue Erkenntnisgegenstände auf" ['Surveiller et punir. Naissance de la prison', Paris: Gallimard 1975], "Überwachen und Strafen. Die Geburts des Gefängnisses", Suhrkamp: Frankfurt am Main 1977, S. 264.

 

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