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Türkei beendet Öcalans Isolationshaft

Volksheld im Gefängnis erhält Gesellschaft – Signal an die Kurden
Abdullah Öcalan, der Anführer der Kurden im Kampf um Gleichberechtigung in der Türkei, befindet sich nicht mehr in Einzelhaft. Die Verbesserung seiner Haftbedingungen unterstreicht neue Reformbereitschaft.

Andres Wysling

Abdullah Öcalan, der Gründer und Chef der kurdischen PKK-Rebellen, befindet sich nicht mehr in Einzelhaft. Fünf Häftlinge wurden auf die Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer vor Istanbul verlegt, wie die private Nachrichtenagentur Dogan berichtet. Öcalan befindet sich seit seiner Festnahme am 15. Februar 1999 auf Imrali; bis jetzt war er der einzige Häftling dort.

Abdullah Öcalan gilt vielen Kurden als oberster Anführer im Kampf um ihre Rechte. In einem befremdlichen Personenkult liess er sich früher als politischer und militärischer Führer feiern und zum Volkshelden hochstilisieren. Durch seine Gefangennahme, seine Verurteilung zum Tod und schliesslich seine Einzelhaft wurde er vollends zum Quasi-Märtyrer mit einem fast schon überirdischen Nimbus, obwohl das Todesurteil nicht vollstreckt, sondern in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wurde.

Auch im Gefängnis blieb Öcalan der massgebliche Chef seiner PKK. Die strategischen Entscheidungen, etwa über eine Waffenruhe und deren Aufhebung, über Angriff und Rückzug der Rebellen, fällte er im Gefängnis und gab sie über seine Anwälte der Aussenwelt bekannt – jedenfalls wurde das von den Anwälten jeweils so dargestellt. Als Öcalans Stellvertreter trat zuweilen sein Bruder auf, Osman Öcalan.

Klassenkampf und Unabhängigkeitskrieg

Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) hatte Abdullah Öcalan 1978 gegründet. Ihr Zweck war der bewaffnete Kampf gegen zwei Feinde: gegen den türkischen Staat und gegen die kurdischen Grossgrundbesitzer. Das Ziel war eine kommunistische Revolution und die Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates. Im Laufe der Zeit haben sich die Zielsetzungen geändert, oder sie wurden neu interpretiert. Das Ziel der staatlichen Unabhängigkeit trat in den Hintergrund, dafür war neu von kulturellen Rechten die Rede. «Unser höchstes Ziel ist das Zusammenleben von Türken und Kurden», erklärte Osman Öcalan 1999 in einem Interview mit der NZZ.

Die PKK wurde schnell zur Massenbewegung, Öcalan und seine Rebellen hatten offenkundig starken Rückhalt in der Bevölkerung. Dabei ist die Ideologie der PKK, wie Abdullah Öcalan sie in Dutzenden von Schriften ausbreitete, völlig unfreiheitlich und antidemokratisch. Trotz marxistischen Einsprengseln ist sie das Gegenteil von modern und aufgeklärt, sondern vielmehr vom Geist der orientalischen Despotie geprägt.

Aufstand gegen den Feudalstaat

Die breite Unterstützung in der kurdischen Bevölkerung war auf die fast vollkommene Rechtlosigkeit vieler Kurden zurückzuführen. Der türkische Staat war in Ostanatolien bis in die jüngste Zeit ein Feudalstaat. Kurdische Grundherren – einige von ihnen sassen im Parlament in Ankara, sie hielten zum Staat – herrschten über weite Ländereien, die jeweils mehrere Dörfer umfassten. Ihrer Herrschaft waren die Landarbeiter und ihre Familien völlig ausgeliefert. In einigen Gebieten ist das heute noch so. Zudem anerkannte der türkische Staat die Kurden nicht als ethnische Minderheit; der Gebrauch der kurdischen Sprache war bis vor kurzem verboten. Auch die alewitische Richtung des Islams, der die meisten Kurden angehören, wird vom türkischen Staat nicht anerkannt.

Der Guerillakrieg der PKK richtete sich in erster Linie gegen Institutionen des türkischen Staats, konkret gegen Gendarmerie und Armee, aber auch etwa gegen Banken. Zudem bedrohte die PKK auch Kurden, die sich ihrem Kampf nicht anschliessen wollten. Von der Türkei, aber auch von der EU und den USA wird sie als Terrororganisation eingestuft. Dabei wurde die PKK zeitweise mehr oder weniger offen von andern Staaten unterstützt, namentlich von Syrien, wo Öcalan sein Hauptquartier errichtete. Auch im kurdischen Nordirak konnte die PKK feste Stützpunkte errichten. So konnte sie ihren Kampf über die Grenze hinweg führen, und sie hatte auch viele gut ausgebildete Kämpfer und genügend Waffen, um eigentliche Kriegszüge zu unternehmen.

Politik der verbrannten Erde

Die Reaktion des türkischen Staates auf die Aktionen der PKK war überaus heftig. Gebietsweise verfolgte die Armee eine Politik der verbrannten Erde. Etwa 4000 Dörfer und Weiler wurden niedergebrannt und die Einwohner in eine Art Kasernendörfer umgesiedelt, mit graden Strassen und einem Polizeiposten am Dorfeingang. Am Kampf gegen die PKK beteiligten sich auch die kurdischen Grossgrundbesitzer mit ihren Privatarmeen, die sie aus ihren kurdischen Landarbeitern rekrutierten. Der Krieg fand somit auch innerhalb der kurdischen Bevölkerung statt. Er forderte insgesamt 30'000 bis 40'000 Tote.

Es gelang dem türkischen Staat, den Aufstand der Kurden militärisch weitgehend niederzuringen. 100 Milliarden Dollar habe der Krieg in Ostanatolien gekostet, wurde offiziell vor einigen Jahren bekanntgegeben. Zwar gab es auch in den letzten Jahren noch öfter Überfälle auf Polizei- oder Militärpatrouillen, aber zu einer grösseren Offensive hatte die PKK nicht mehr die Kraft und die Mittel. In Syrien und im Nordirak ist sie auch nicht mehr willkommen. Und vor allem fehlt ihr die Unterstützung für den bewaffneten Kampf in der Bevölkerung: Diese ist kriegsmüde.

Zaghafte Reformen

Politisch hat der türkische Staat den Krieg in Ostanatolien verloren, denn er konnte die kurdische Bevölkerung nicht für den Staat gewinnen. Die nach demokratischen Massstäben gerechtfertigten Forderungen der Kurden sind bis heute nicht erfüllt. Aber der Ruf nach politischer und wirtschaftlicher Besserstellung sowie kulturellen Rechten lässt sich nicht auf Dauer ignorieren und unterdrücken. Eine Verbesserung trat ein mit der Wahl von Recep Tayyip Erdogan zum Regierungschef der Türkei ein. Er hatte seine Wahl nicht zuletzt den Stimmen der Kurden zu verdanken, die ihm Reformen in ihrem Sinne zutrauten.

Tatsächlich wurden unter Erdogan Reformen eingeleitet, doch dann blieben sie stecken, entweder weil Erdogan der nötige Reformeifer fehlte oder aber weil die Armee Reformen verhinderte. Seit einigen Monaten sind nun wieder Fortschritte zu beobachten, oder jedenfalls Ansätze zu solchen. Die Beendigung der Isolationshaft Abdullah Öcalans ist eine symbolische Geste zu der neuen Politik der Öffnung. Die Normalisierung seiner Haftbedingungen ist auf jeden Fall richtig. Der Schritt wird in der kurdischen Bevölkerung die Hoffnung verstärken, dass Gleichberechtigung im türkischen Staat doch möglich ist – auch bei denjenigen Kurden, die in Abdullah Öcalan nicht gerade eine Lichtgestalt sehen.