Jacques Bidet: "Foucault avec Marx", Paris: La Fabrique 2014

mit Bezug zu: Grenzbegriffe "Indien", "Orient", "Nominalismusproblem" (Michel Foucault), "Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen" (Michel Foucault), London: Zed Books ("Foucault with Marx", trans. Steven Corcoran, 2016), Jean-Paul Sartre, Malik-Verlag (René Descartes → Immanuel Kant ⇆ "Dadaismus")

 

Abb. "Ein mehrfach von der Wasseroberfläche abprallender Stein", Patagonien 2010, Bild von Killy Ridols unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 2.0 (modifiziert).

 

Simon Unger: "Wie die Klassengesellschaft denken? Lesenotiz zu Jacques Bidets Buch 'Foucault mit Marx'", Rezension von Jacques Bidet*: "Foucault mit Marx", aus dem Französischen von Andreas G. Förster und Lilian Peter, Berlin: Dietz 2023, theorieblog.de, 5. Februar 2024:

"Demgegenüber geht es Bidet um die Zusammenführung zweier 'unvollständiger Theoriegebäude', die unter dem Dach seines Metamarxismus (oder Altermarxisme), mit dem Anspruch einer 'allgemeinen Theorie der modernen Gesellschaft', vereinheitlicht werden sollen (S. 13, 20f.). Denn beide - und darin liegt die Möglichkeit ihrer Verbindung - verfolgen mit ihrer theoretischen Arbeit dasselbe politische Grundanliegen, nämlich die universelle Emanzipation der dritten 'Partei', verstanden als Masse an Rechtlosen, Anteilslosen und Ohnmächtigen in Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnissen (S. 12, 22f.) [...]".

"Die Metastruktur als 'reale Bedingung ihrer Existenz', ist der Struktur zugleich vorausgesetzt und von ihr hervorgebracht (ebd. [ = S. 14]). [...] Von hier aus formuliert Bidet seine zu untersuchende Hypothese: Marx und Foucault untersuchen jeweils einen 'Pol' der beiden modernen metastrukturalen Fiktionen der modernen Gesellschaft: Marx die Logik [!] des Marktes, Foucault die Ordnung der Organisation (S. 15f.) [...]".

"Im dritten Kapitel tritt Bidet dann abermals einen Schritt zurück auf die Ebene der Epistemologie der Gesellschaftsanalyse. Hier konfrontiert er Foucaults Nominalismus des Singulären, also das analytische Primat des Individuellen, mit Marx' Strukturalismus (Holismus [!]) des Ganzen. Bidet schlägt vor, mithilfe der Begriffe Klassenbeziehung und Klassenverhältnis, Nominalismus und Strukturalismus dialektisch zu verbinden (S. 105). Beziehung und Verhältnis stellen sich als Kernbegriffe der metastrukturellen Theorie heraus (S. 108f.). Beziehung verstanden als direkte Klassenbeziehung 'Zwischen-Einzelnen', z.B. Manager/Lohnarbeiter, Großhändler/Landwirt, Journalist/Rezipient, Lehrer/Schüler, Arzt/Patient etc. Verhältnis dagegen verstanden als strukturierendes Klassenverhältnis 'Zwischen-Allen', d.h. zwischen Besitzenden/Nicht-Besitzenden an Privateigentum und Kompetenzwissen (S.109f.) [...]".

"Gleichzeitig wenden die Akteure der herrschenden Klassen Praktiken an, [...] um die Klassenspaltung zu stabilisieren oder zugunsten ihres Interesses zu verschieben".

"[S]eine [...] Grundannahmen der metastrukturellen Ontologie erlauben eine innovative [!] Wiederbelebung des für tot-erklärten Klassenbegriffs. [...E]r [...] erweitert [ihn und...] relativiert [ihn zugleich]".

 

Die mit [!] markierten Stellen sind für künftige Anmerkungen vorgemerkt. Offensichtlich ist aber, dass Bidet die marxistische Epistemologie*** als Phänomenologie**** einer Struktur deutet, und diese mit dem im Widerspruch stehenden Nominalismus des Diskurses einfach eine "Meta"-Ebene tiefer oder höher in einer eher klassisch-idealistischen Ontologie einbettet. Die "kapitalistische Produktionsweise" bleibt in der Einleitung - in einer Bemerkung über die Gegner*innen Foucaults - zurück. Der eigentlich erst den Widerspruch setzende epistemische*** Anspruch der in einem bestimmten Sinn historisch-materialistisch gedachten dialektischen Methode wird übersehen. Stattdessen wird Bidets "Meta"-Ontologie einer dialektischen Rekonstruktion des konkret Vorfindlichen in einer historischen Abfolge von sich bedingenden Möglichkeiten vorgeschaltet, das Prinzip der Methode mittels Offenbarung von Metaphysik umgangen. So bleibt nur noch eine "Logik des Marktes" übrig, sozusagen positivistisch verkürzt, verdinglicht. Der Marx, an dem sich hier abgearbeitet wird, scheint nicht derjenige der Lesart einer Kritischen Theorie zu sein, dabei hatte diese doch historisch bereits Ansätze geliefert, unter kritischem Einbezug von Georg Wilhelm Hegels "Phänomenologie des Geistes" und der Übertragungstheorie der Psychoanalyse analytische Mittel für das Kulturelle zu erarbeiten. Auch der Klassen(verhältnis)begriff, der gerettet und "erweitert" werden soll, steht etwas im Schatten historischer leninistischer Kader, anstatt auf Höhe der gegenwärtigen Diskussion. Schließlich werden also zwar Mängel in der kollektiven Theorieentwicklung behoben, die vielleicht in dieser Form gar nicht bestehen, während andere Mängel, die bestehen, unberücksichtigt bleiben.

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques. notes ]

* Andere Werke von Jacques Bidet:

"Que faire du Capital?", Paris: Klincksieck 1985.
"Théorie de la modernité", Paris: PUF 1990.
"John Rawls et la théorie de la justice", Paris: PUF 1995.
"Théorie générale", Paris: PUF 1999.
Mit Eustache Kouvelakis: "Dictionnaire Marx Contemporain", Paris: PUF 2001.
"Explication et reconstruction du Capital"**, Paris: PUF 2004.
Mit Gérard Duménil: "Altermarxisme, un autre marxisme pour un autre monde", Paris: PUF 2007.
"L'État-monde, Libéralisme, Socialisme et Communisme à l'échelle mondiale, Refondation du marxisme", Paris: PUF 2011.

** "Zusammenfassung: Die neue Idee des Autors in dieser Erkläuterung des Kapitals besteht darin, 'die Organisation in der modernen Gesellschaft und Wirtschaft hat eine ähnliche Rolle wie der Markt. Daraus schließe ich, dass wir von vorne beginnen müssen - die Exposition des Kapitals von Anfang an, indem Markt und Organisation als wirtschaftliche und politische Kategorien behandelt werden, die immer miteinander verflochten sind, als zwei Begriffe mit demselben epistemologischen*** Status, die in ihrer Wechselbeziehung die moderne Form der Gesellschaft bestimmen'" (puf.com/explication-et-reconstruction-du-capital, 2015).

"Résumé: L'idée nouvelle de l'auteur, dans cette explication du Capital, est que "l'organisation joue, dans la société et l'économie modernes, un rôle analogue à celui du marché. J'en conclus qu'il faut reprendre par le début l'exposé du Capital, en traitant marché et organisation, catégories économiques et politiques, toujours imbriquées l'une à l'autre, comme deux termes de même statut épistémologique***, déterminant, dans leur interrelation, la forme moderne de la société'" (puf.com/explication-et-reconstruction-du-capital, 2015).

*** "Epistemisch" ist das Wissen betreffend. "Epistemologisch" ist die Erkenntnistheorie (Epistemologie) betreffend. Eine Erkenntnistheorie betrachtet als Prima philosophia, "erste Philosophie", die Frage: "Was können wir wissen?".

**** Phänomenologie ist "die Lehre von den im Bewußtsein erscheinenden Gegenständen der Welt; die Wissenschaft von den sich dialektisch entwickelnden Erscheinungen der Gestalten" (spektrum.de/lexikon/psychologie/phaenomenologie/11484, 2000). Eine "Ontologie" ist eine Lehre vom Sein, sei es in Form einer religiösen Offenbarung oder eines ausgefeilten metaphysischen Systems einer einzelnen denkenden Person. Das Wort "transzendental", das insbesondere mit Immanuel Kant assoziiert ist, ist da angedacht, wo es um Bedingungen der Möglichkeit von etwas geht. In der westlichen Philsophiegeschichte standen sich zunächst - d.h. mit insbesondere René Descartes - Rationalismus (ratio, lateinisch für "Vernunft") und Empirismus (empiría, griechisch für "Erfahrung"), später Idealismus (idea, lateinisch für "Ahnung, Anschauung, Gedanke, Idee, Impuls, Meinung, Plan, Vorstellung, Konzept") und Naturalismus (natura von nasci, lateinisch für "entstehen, entspringen, seinen Anfang nehmen, herrühren", semantische Entsprechung zu altgriechisch physis) gegenüber. Das heißt, die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens (die Erkenntnistheorie) gingen entweder von einem "Blick" nach innen, eier Introspektion des Denkens (ratio, idea), oder von einem "Blick" nach außen, einer systematisierten Beobachtung oder Messung, aus (empiria, natura, physis). Diese Versuche scheitern aber regelmäßig darin, sich als metaphysische (religiöse) Setzung, unendlicher Regress oder Zirkelschluss herauszustellen (z.B. die sogenannte "Autopoeisis [Selbsterschaffung- und erhaltung] des Gehirns", hier der "Metastruktur").

 

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