"Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen"

mit Bezug zu: Hans B. Wagenseil, Kurt Wagenseil

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"Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen" erschien vom 1. Jahrgang 1952 - 10. Jahrgang 1962, Nr. 1 - 174, bei München: Desch. Die Wagenseil-Brüder waren seit 1955 dabei. Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 veränderte alles. Während ab Oktober in der Philosophie die später "Positivismus-Streit" genannte Debatte begann, ging es ab November in der Literatur um die Haltung zum Kommunismus. Fronten verhärten sich.

Abb. Titelblatt 1. August 1957.

"Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen" ["The Culture. An Independent Newspaper with International Contributions"] appeared from the 1st volume 1952 - 10th volume 1962, No. 1 - 174, Munich: Desch. The Wagenseil brothers had been involved since 1955. The building of the Berlin Wall on 13 August 1961 changed everything. While the debate later called the "Positivism Dispute" began in philosophy in October, the attitude to communism was at stake in literature from November onwards. Fronts harden.

Fig. title page 1 August 1957.

Februar 1955: John Steinbeck: "Faustregeln beim Fernsehen" ("Aus dem 'Punch' übertragen von H.B. Wagenseil"); 31. August 1955: Henry Miller: "Es war einmal..." (aus der Übers. von Kurt, "Plexus"; daneben: "Zum Tode von Thomas Mann"); 01.08.1959: [Hans] John Steinbeck: "Danach"; Juni 1960: [Kurt] Jean Cau: "Das süße Leben*. Was Fellini im Film zeigt, schildert dieser Bericht am Beispiel von Frankreichs 'vornehmer Gesellschaft'"; November 1960: [Kurt] "Die Farbe ist nicht mein Heimatland. Ein Gespräch mit dem in Paris lebenden Romanautor Richard Wright"; Dezember 1960: [Kurt] H.G. Wells: "Der Zauberladen"; Juni 1961: [Kurt] Eugène Ioneco: "Habe ich Anti-Theater gemacht?"; August 1961 [Kurt]: Arnold J. Toynbee: "Der schöpferische Mensch im Atomzeitalter" [Kasten im Text: "In München wird eine Humanistische Union gegründet"; initiiert von Gerhard Szezesny, Publizist, "Autor des Buches 'Die Zukunft des Unglaubens'"**].

Im November 1961*** erscheint ein Aufruf "Verleger warnen: Wehret den Anfängen", nach einer Indizierungsbegründung der Prüfstelle für eine Schrift, "gleich ob sie als Kunstwerk zu beurteilen ist oder nicht", "[s]ie bekräftigen, daß die Frage der Freiheit der Literatur und jeglicher Freiheit in Deutschland keine innerdeutsche Frage ist, sondern die ganze freie Welt angeht. Versuche, sie zu untergraben, werden daher in Zukunft und in jedem einzelnen Fall vor der Öffentlichkeit dieser freien Welt behandelt und angeprangert werden", unterschrieben von u.a. Kurt Desch Verlag (München), Fackel Verlag (Stuttgart), Rowohlt Verlag GmbH (Hamburg), Paul Zsolnay Verlag, Wien.

Abb. links Ausschnitt aus Ausgabe Feb. 1954.

Es folgt auf dem Titelblatt der Dezemberausgabe von 1961: [Kurt] Henry Miller: "Der Tag des Zorns ist über uns. Der Künstler wider den Priester, Lehrer, Staatsmann und Krieger".

S. 1f.: "Dort ist er, der Mensch, heute wie gestern, in hellen Scharen, kämpft sich mit den Ellenbogen den Weg frei, windet sich durch Astlöcher, trampelt über die Toten, nützt die Schwachen aus, drängt vorwärts, immer vorwärts, auf ein unsichtbares Ziel zu. Zur Zukunft hin. Die Zukunft ist immer hell. Nicht einen Augenblick kann er mit seiner Tätigkeit aufhören, mag sie nun ruhmreich oder unheilbringend sein. Von welchem Dämon ist er besessen? Wohin triebt ihn dieses ängstliche und unausgesetzte Drängen? Schuftet er wie ein Sklave, um die Welt zu verbessern? Ist er um seine Nachkommenschaft oder um sich selbst besorgt? Jede Antwort, die er darauf gibt, ist eine Lüge. Er weiß nicht, warum oder für was er kämpft. Er ist in einem Mechanismus gefangen, den er nicht verstehen kann. [...] Er braucht nur einen Sprung zu tun (innerlich) und wäre aus dem Mechanismus heraus".****

Weitere Texte üblicher Autor*innen ohne eine Übersetzernennung: Harold Nicolson: "Ist der Roman tot?" (Okt. 1955), John Steinbeck: "Eine Liebesnacht" (Okt. 1955), Pearl S. Buck: "Emmigranten" (Okt. 1955), Achille Companile: "Unzerbrechliches Glas" (1. Nov. 1955).

Abb. Ausgabe Januar 1962, S. 6.

In der Januar-Ausgabe 1962 von "Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung" findet sich auf S. 6f.: "Falsche Zitate, irreführende Interpretationen und ein umstrittenes Tonband. Hermann Kesten***** berichtigt Uwe Johnson****/6, Giangiacomo Feltrinelli****/7, Enrico Filippini und deckt die Wahrheit auf".

Über den Mauerbau am 13. August 1961 soll Johnson auf einer Konferenz in Mailand am 11. November 1961, "Die junge erzählende deutsche Literatur", im Gespräch mit Feltrinelli und Lektor Filippini gesagt haben, "die Kommunisten [...] befanden sich in der Notwehr". In Kestens Darstellung sei Johnson kein Kommunist, sondern "verblendet", "[d]ie Verblendung eines Publizisten ist eine öffentliche Gefahr". Es ist bereits die mind. zweite Darstellung durch Kesten, als Antwort auf einen "Rufmord"-Vorwurf durch Johnson und Falschdarstellungsvorwürfe durch alle drei genannten Personen. Kesten war häufiger Beiträger der Zeitung. Mit der Aprilausgabe 1962 wird die Zeitung eingestellt.

Hector Bolithos "A Summer in Germany" (Kap. XI.4, London: Wolff 1963, S. 73f.) beschreibt zwei Monate des Jahres 1962, die einen Besuch in Kurts Haus beinhalten: "Ich sagte, dass ich sentimental gegenüber München sei. Aber das ist nur halb wahr, denn ich bin nicht sentimental gegenüber alten Freunden, wenn sie im Laufe der Jahre zu jemand anderem geworden sind. Es besteht die Möglichkeit, dass man auch ein anderer geworden ist. Das Sieben von altem Staub bei solchen Treffen kann traurig und künstlich sein. So freute ich mich, Kurt, einen Gefährten der Nachtclubs und der Ausgelassenheit längst vergangener Zeiten, als einen erwachsenen Menschen zu finden, verheiratet, mit zwei Söhnen, aber auch mit seinem Mut und seinem erfüllten Leben. Er hat bei der Bombardierung alles verloren und musste neu anfangen" (übersetzt).

Hector Bolitho's "A summer in Germany" (Chap. XI.4, London: Wolff 1963, p. 73f.) describes two months of 1962, containing a visit at Kurt's home: "I said that I was sentimental about Munich. But this is only half true, for I am not sentimental about old friends, if, during a gap of years, they have become someone else. There is the possibility that one has also become someone else. The sifting of old dust in such meetings can be sad and artificial. So I was pleased to find Kurt a companion of night clubs and the hilarity of long ago grown up, married, with two sons, but also with his courage and his life fulfilled. He lost every object during the bombing and had to begin again".

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques ]

1. "La Dolce Vita", 2. "Die Zukunft des Unglaubens", 3. Positivismusstreit, 4. Henry Miller und das Innerliche, 5. Hermann Kesten, 6. Uwe Johnson, 7. Giangiacomo Feltrinelli, 8. Rudi Dutschke, 9. 1969-1971, 10. Gerhard Szczesny, 11. Alfred Sohn-Rethel, 12. "Theorie der Subkultur", 13. "Rücken eines Tigers", 14. Alexander Ziegler, 15. Archäologie, 16. James Knapp-Fisher, 17. Ursula Pommer, 18. Hans B. im Fernsehen

* Frederico Fellini: "La Dolce Vita" ("Das süße Leben"), 1960, imdb tt0053779: "In 1959/1960 Rome, Marcello Rubini (Marcello Mastroianni) is a writer and journalist, the worst kind of journalist - a tabloid journalist. His job is to try to catch celebrities in compromising or embarrassing situations. He tends to get quite close to his subjects - especially when they're beautiful women. Two such subjects are local heiress Maddalena (Anouk Aimee), and Swedish superstar-actress Sylvia (Anita Ekberg), with both of whom he has affairs despite being engaged to Emma (Yvonne Furneaux), [...]. Despite his extravagant, pleasure-filled lifestyle, he is wondering if maybe a simpler life wouldn't be better"; Premiere in Rom am 2. Februar 1960, in Paris am 7. Mai, beim Cannes Filmfest am 10. Mai, am 22. Juni in Westdeutschland, am 8. Dezember in Großbritannien und am 19. April 1961 in den USA. Einen Kontrast zum Lebensentwurf Marcellos stellt die Figur "Steiner" (Alain Cuny) dar. Marcello bewundert den angesehenen intellektuellen Freund, der aber seine Entscheidung für einen bürgerlichen Lebensweg bereut: "Don't be like me. Salvation doesn't lie within four walls. I'm too serious to be a dilettante and too much a dabbler to be a professional. Even the most miserable life is better than a sheltered existence in an organized society where everything is calculated and perfected".

** Gerhard Szczesny: "Die Zukunft des Unglaubens. Zeitgemässe Betrachtungen eines Nichtchristen", München: List, 1958. Ein Exemplar des Buches befand sich vor 2002 im Familienbesitz. Außerdem Gerhard Szczesny: "Das sogenannte Gute. Vom Unvermögen der Ideologen", Hamburg: Rowohlt 1971. Siehe auch Anm. ****/10.

*** Kurze Zeit zuvor bildete ein Referat von Karl Popper (1902-1994) und ein Koreferat von Theodor W. Adorno (1903-1969) am Eröffnungstag einer Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die vom 19. bis 21. Oktober 1961 in Tübingen stattfand, den Auftakt der "Positivismusstreit" genannten Kontroverse. Das Thema der Referate lautete: "Die Logik der Sozialwissenschaften". Karl Popper: "Die Logik der Sozialwissenschaften", in: "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial-Psychologie", 14. Jg., 1962, S. 233-248; Theodor W. Adorno: "Zur Logik der Sozialwissenschaften", in: "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial-Psychologie", 14. Jg., 1962, 252-263.

Bild "The West Berlin side of the Berlin Wall, between the boroughs of Tiergarten and Mitte" von Angr (Juni 1989), Public Domain (modifiziert).

Dirk Braunstein: "'Seien Sie also unbesorgt...'. Einleitung in den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Karl R. Popper", in: "WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung", hrsg. von Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main, Nr. 2/2019: "Schulden und Schuld", S. 197-204, insb. S. 201: "Blickt man aus der Perspektive der späteren Äußerungen zur Debatte auf diese zurück, wird deren Konzilianz zunichte. 1969, kurz vor Adornos Tod, erscheint der Sammelband Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, der seinem Gegenstand erst zu einem Zeitpunkt den heute geläufigen Titel gab, an dem er bereits historisch war. Im Nachwort dieses Bandes zeichnet [Hans] Albert die Debatten nach, die mit der Tübinger Arbeitstagung der DGS ihren Anfang nahmen: 'Die hier abgedruckte Diskussion begann 1961 zwischen Karl Popper und Theodor W. Adorno, sie wurde 1963 mit dem Nachtrag von Jürgen Habermas fortgesetzt, auf den ich 1964 replizierte, worauf im gleichen Jahr eine Antwort aus seiner Feder und im darauf folgenden wieder eine Entgegnung von mir erfolgte (Albert 1969: 333)".

Theodor w. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot, Karl R. Popper: "Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie", München: Luchterhand 1969; "The Positivist Dispute in German Sociology", London: Heinemann 1976 & New York: Harper Torchbook 1976.

Dirk Braunstein, a.a.O., S. 201: "Ein Brief Poppers an Albert vom 9. Januar 1970 entkräftigt jeglichen Eindruck der Einigkeit und des gegenseitigen Respektierens, wenn es etwa heißt: 'Ich habe gerade den Positivismusstreit bekommen. Ich kann diese Leute einfach nicht ernst nehmen. Der arme Adorno ist ja tot - aber er wußte ja nicht, was intellektuelle Verantwortlichkeit (oder Rechtschaffenheit) heißt. Und der Habermas ist ja ein Flachkopf (Albert und Popper [Briefwechsel 1958-1994, Frankfurt: S. Fischer] 2005: 137)".

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: "Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente", [EA Privatkopien 1944; Amsterdam: Querido-Verlag 1947], Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 31: "Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu"; S. 42: "Dem Positivismus [...] gilt in intelligible Welten auszuschweifen nicht mehr bloß als verboten, sondern als sinnloses Geplapper. Er braucht - zu seinem Glück - nicht atheistisch zu sein, weil das versachlichte Denken nicht einmal die Frage stellen kann".

Werner Fuchs-Heinritz: "Lexikon zur Soziologie", Westdeutscher Verlag: Opladen 1973, S. 720f., Artikel "Verdinglichung": "In der Wirtschaftssoziologie: (1) besonders von G[eorg; György] Lukács ['Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats', Berlin: Malik-Verlag 1923; "Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik", Berlin: Malik-Verlag 1923; "Werke. Frühschriften. Band 2", Neuwied: Luchterhand 1968; "History and Class Consciousness", London: Merlin 1971] im Anschluss an K. Marx verwendeter Begriff für eine Form der Entfremdung, die das Bewusstsein oder das Denken betrifft. Verdinglichtes Bewusstsein oder verdinglichtes Denken begreift den Zusammenhang von Mensch und von ihm geschaffenem Gegenstand, von Produzent und Produkt nicht mehr, sondern hält diese Spaltung für eine grundlegende und natürliche und die vom Menschen geschaffenen Dinge (seien es Waren, gesellschaftliche Regelungen oder soziale Institutionen) für außer der Gewalt des Menschen stehende und ohne ihn (natürlich) entstanden. Diese, für die Marxisten in der kapitalistischen Produktionsweise unvermeidbare Erscheinung, wirkt sich vor allem in den Anschauungen zur Religion, zur Moral und zur Kunst, aber auch zur Wissenschaft und Philosophie aus. Im Bereich des Religiösen ist die menschliche Welt in eine religiöse und eine weltliche verdoppelt, und moralische Gebote sind von außen aufgegeben. Die Kunst spiegelt die Spaltung von schlechter Wirklichkeit und unwirklicher Idee. Die 'positivistische' Wissenschaft wiederholt den Gegensatz von Produzent und Produkt in der erkenntnistheoretischen Spaltung von Subjekt und Objekt. Wie die Entfremdung verschwindet die Verdinglichung nach der revolutionären Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise".

**** Ähnliche Vorstellungen finden sich in Anaïs Nin: "Diaries", Auszüge (Freundschaft mit Maxwell Geismar).

***** Hermann Kesten veröffentlichte auch im Querido-Verlag sowie bei Allert de Lange.

****/6 Im Nachlass Uwe Johnson (Literaturarchiv Marbach, Signatur UJA/H/25341: Kasten 097, Mappe 7, Blatt 13v) befindet sich ein Zeitungsausschnitt des Artikels "Die Farbe ist nicht mein Vaterland. Ein Gespräch mit dem in Paris lebenden Romancier Richard Wright", übersetzt von Kurt Wagenseil, vgl. Keneth Kinnamon, Joseph Benson: "A Richard Wright Bibliography: Fifty Years of Criticism and Commentary, 1933-1982", Westport, Connecticut: Greenwood Publishing Group 1988, S. 440, 1960 Nr. 23: "'Die Farbe ist nicht mein Vaterland', Die Kultur, 9 (November), 6. Abridged translation of 1960.22"; ebenda, S. 439f., 1960 Nr. 22: "Anon. 'Entretien avec Richard Wright', L'Express, No. 479 (18. August), pp. 22-23. Interview with W on a number of topics. He discusses the growing awareness of the world of color and his own fight for a world free of racism [...]".

Außerdem listet der Nachlass ein leeres Blatt als Lesezeichen, das in S. 104 von Claudio Pozzoli: "Über Karl Korsch", "Jahrbuch 1. Arbeiterbewegung. Theorie und Geschichte", Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1973, Signatur UJA/BA/01286-00-00, einlag.

****/7 OVB Rosenheim, Donnerstag, 4. Mai 1972, S. 4: Jürgen Schendel: "Mailand: Guerilla-Zentralen ausgehoben. Eine Folterkammer für verschleppte Feinde des Volkes. Gespenst Feltrinellis über dem Bunker der Roten Brigaden": "Enzensberger nahm übrigens zusammen mit Uwe Johnson und dem Linksverleger Kurt Wagenseil an dem Begräbnis von Feltrinelli teil". Giangiacomo Feltrinelli (geb. 19. Juni 1926 in Mailand; gest. 14. März 1972 in Segrate), genannt Osvaldo oder Fra Feltrinelli, war ein italienischer Verleger und kommunistischer Aktivist; "1954 gründete er den Feltrinelli-Verlag in Mailand. [...] Von dem ebenfalls linksgerichteten Luciano Bianciardi, mit dem er befreundet war, veröffentlichte er nicht nur zahlreiche aufsehenerregende Übersetzungen (u. a. Henry Millers Wendekreis des Krebses und Wendekreis des Steinbocks)" (WP 10.11.22). Er brachte eine Fotografie, die Albert Konda am 05. März 1960 in Kuba aufgenommen hatte, von dort mit und vermarktete zuerst den Bildausschnitt, der Ché Guevara zeigte, als "Guerrillero Heroico", den 1968 Jim Fitzpatrick als Vorlage des dreifarbigen Posterdrucks verwendete. Feltrinelli teilfinanzierte den Vietnamkongress am 17. und 18. Februar 1968 in Berlin und war mit Rudi Dutschke****/8 befreundet, den er zu einem Genesungsaufenthalt bei sich einlud. "Ende 1969 ging der Verleger in den Untergrund"****/9. Feltrinelli starb in Aktion.

S.a. Giangiacomo Feltrinelli: "Offene und geheime Zensur", in: "Sprache im technischen Zeitalter", Nr. 2, Köln/Wien: Böhlau-Verlag 1962, S. 135-147; Carlo Feltrinelli: "Feltrinelli. A Story of Riches, Revolution, and Violent Death", New York: Harcourt 2002.

Abb. "Giangiacomo Feltrinelli, 1970", Fondazione Feltrinelli, Public Domain (modifiziert).

****/8 Vgl. Gretchen Dutschke: "Wir hatten ein barbarisch schönes Leben", Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015, S. 337f.: "Sie entdeckten 1972 ein Deutschland, in dem es keine antiautoritäre Bewegung mehr gab, sondern fast nur noch Sektierer. Diese waren eigentlich bedeutungslos, doch als Rudi immer wieder hörte, was für ein Unheil sie anrichteten, und entdeckte, wo ihre Vertreter sich überall eingeschlichen hatten, begann er ihren Einfluss zu überschätzen. Er war jedoch überzeugt davon, dass es außerhalb der K-Gruppen viele undogmatische Linke gebe, die isoliert voneinander vor sich hinwerkelten. [...Rudi und Manfred sitzen zusammen:] Wie lassen sich spontane Bewegungen so organisieren, dass Dauerhaftes bleibt? Es reicht nicht aus, dass bloß Erfahrungen gemacht werden, es muss etwas aufbewahrt werden. Theorie ist auch das kollektive Gedächtnis einer Bewegung. Menschen, die theorielos kämpfen, haben keine Orientierung" (siehe auch Edition Voltaire).

****/9 Die Jahre 1969-71 in ihrem weiteren kulturellen und medialen Kontext - und nach dem ereignisreichen Jahr 1968:

(1) Am 20. Januar 1969 beginnt die Amtszeit des Republikaners Richard Nixon als US-Präsident. Die Stonewall Riots in der Christopher Street, Greenwich Village, New York, dauern an vom 28. Juni bis 3. Juli 1969. Am 20. Juli 1969 landet die Apollo-11-Mission auf dem Mond. Am 6. August erliegt Theodor W. Adorno auf einer Urlaubsreise einem Herzinfarkt. Am 14. August läuft der Sergio-Leone-Western "Spiel mir das Lied vom Tod" (Italien / USA 1968) in westdeutschen Kinos an. Vom 15. bis 18. Aug. 1969 findet in Bethel auf und um Max Yasgur's Farm das Musikfestival Woodstock statt. Im Oktober 1969 kommt in Westdeutschland eine sozialliberale Koalition auf Bundesebene zustande. Das Motto von SPD-Chef Willy Brandt, "Mehr Demokratie wagen" (Regierungserklärung vom 28.10.1969), nimmt der linken Opposition das Konzept der Reform. Der Zeichentrickfilm "Die Konferenz der Tiere", basierend auf dem gleichnamigen Buch Erich Kästners (Zürich: Eruopa-Verlag 1949), wird ab dem 13. Dezember gezeigt.

Im Jahr 1969 startet im Hamburger Rowohlt-Verlag im Rahmen der "rororo klassiker" die "schwarzrote Reihe" "Texte des Sozialismus und Anarchismus 1800-1950", es erscheint das "rororo sachbuch" "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill" von Alexander Sutherland Neill [EA "Summerhill. A radical approach to child rearing", New York: Hart Publishing Company 1960], übersetzt von Herman Schroeder und Paul Hostrup, Vorwort von Erich Fromm (zuvor allerdings bereits als "Erziehung in Summerhill. Das revolutionäre Beispiel einer freien Schule", München: Szczesny-Verlag 1965****/10); Simone de Beauvoir: "Eine gebrochene Frau" [EA "La femme rompue", Paris: Gallimard 1967]; Ernesto "Che" Guevara: "Aufzeichnungen aus dem kubanischen Befreiungskrieg 1956-1959", mit Einleitung von Fidel Castro; Walter Kempowski: "Im Block". Im Jahr 1970 erscheinen bei Rowohlt Henry Miller: "Sexus" und bei Hoffmann& Campe in Hamburg Kurt Vonnegut: "Schlachthof 5 oder der Kinderkreuzzug", beides übersetzt von Kurt Wagenseil. Rowohlt bringt außerdem 1970 Elfriede Jelinek: "wir sind lockvögel, baby!"; 1971 Jane van Lawick-Goodall: "Wilde Schimpansen" [EA "In the Shadow of Man", London: William Collins Sons & Co. 1971]; A. S. Neill: "Die grüne Wolke" [EA "The Last Man Alive", 1938], übersetzt von Harry Rowohlt (rowohlt.de/verlag/chronik).

1969/70 kommt auch die erste deutsche Übersetzung von J. R. R. Tolkien: "Der Herr der Ringe. 3 Bände" durch Margaret Carroux heraus (Stuttgart: Klett-Cotta, EA "The Lord of the Rings", London: Allen & Unwin 1954/55, geschrieben 1937-49).

1970 erscheinen Peter Handke: "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter"; Uwe Johnson: "Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl", 1. Band; Thomas Bernhard: "Das Kalkwerk"; Martin Walser: "Ein Kinderspiel. Stück in zwei Akten" (alles Frankfurt: Suhrkamp); Alfred Sohn-Rethel****/11: "Warenform und Denkform"; und Hans Magnus Enzenberger: "Baukasten zu einer Theorie der Medien" (in: "Kursbuch" 20, Frankfurt: Suhrkamp 1970, S. 159-186); Gisela Elsner: "Berührungsverbot" (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt); Toni Morrison: "The Bluest Eye" (New York: Rinehart and Winston); Philip K. Dick: "Our Friends from Frolix 8" (New York: Ace Books).

Abb. Bundesarchiv Bild 183-J0814-0013-001, "Berlin, Karl-Marx-Allee, Hotel 'Stadt Berlin'" von Kulka (14 August 1970) unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0 (modifiziert).

An den westdeutschen Kinokassen führt 1970 "Schulmädchen-Report: Was Eltern nicht für möglich halten" (Regie: Ernst Hofbauer, Produktion: Wolf C. Hartwig) die Hitparade an, in den USA das romantische Drama "Love Story" (directed by Arthur Hiller, Screenplay by Erich Segal). Am 10. April 1970 gibt die britische Beat-, Rock- und Pop-Band "The Beatles" ihre Auflösung bekannt. Am 14. Mai befreit eine Gruppe um Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof Andreas Baader aus der Haft in West-Berlin, am 5. Juni veröffentlicht sie in der Zeitschrift "Agit 883" (Nr 62, S. 6) einen Text "Die Rote Armee aufbauen!". Am 24. Juli 1970 beginnt der Tate-LaBianca-Mordprozess gegen Charles Manson, Susan Atkins, Patricia Krenwinkel und Leslie Van Houten in Los Angeles. Ein Zyklon mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 230 km/h und meterhohen Flutwellen trifft am 12. November Bangladesch (damals Ostpakistan) und tötet ca. 300.000 Menschen. Am 29. November 1970 läuft die erste Folge "Taxi nach Leipzig" der Krimireihe "Tatort", einer Gemeinschaftsproduktion der deutschen, österreichischen und Schweizer Sender ARD, ORF und SRF.

Der "Club of Rome" leitet 1970 die Arbeit an seinem ersten Report "The Limits of Growth", Washington: Potomac Associates 1972 (dartmouth.edu, "Die Grenzen des Wachstums") ein mit dem Dokument "The Predicament of Mankind. Quest for Structured Responses to Growing Worldwide Complexities and Uncertainties. A Proposal" [archive.org], ausgehend von "The Problematique", dass Komplexität keine isoliert-individuellen Problemlösungen mehr zulasse: "When we consider the truly critical issues of our time such as environmental deterioration, poverty, endemic ill-health, urban blight, criminality, etc., we find it virtually impossible to view them as problems that exist in isolation - or, as problems capable of being solved in their own terms" (S. 12).

Zwischen dem 3. Juli 1969 und dem 3. Juli 1971 sterben die Musiker*innen Brian Jones (1962 Gründungsmitglied von The Rolling Stones und deren Lead-Gitarrist), Jimi Hendrix (u.a. Jimi Hendrix Experience), Janis Joplin (1966 Big Brother and the Holding Company, 1968 Kozmic Blues Band, 1970 Full Tilt Boogie Band) und Jim Morrison (Sänger der 1965 gegründeten The Doors, benannt nach Aldous Huxley: "The Doors of Perception", London: Chatto & Windus 1954). Die Reihe wird zwar zeitgenössisch aufgemacht (Nesta Roberts: "Flower Bower", "The Guardian", September 10, 1971, S. 13), aber erst in Nachfolge von Biographien des 1994 gestorbenen Musikers Kurt Cobain (1987 Nirvana, Charles R. Cross: "Heavier Than Heaven. A Biography of Kurt Cobain", New York: Hyperion Books 2001) folgt die spätere, entpolitisierend-ahistorische Mystifikation und Vermarktung (u.a. Eric Segalstad: "The 27s. The Greatest Myth of Rock & Roll", Berkeley Lake: Samadhi Creations 2008).

1970 schreibt Rolf Schwendter am Manuskript der "Theorie der Subkultur"****/12 (Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag 1971). Michel Foucaults Antrittsvorlesung "L'ordre du discours" vom 2. Dezember 1970 wird 1971 gedruckt (Paris: Gallimard)****/13. 1971 folgt auf Vladimir Jankélévitchs "Le Pardon" (Paris: Aubier-Montaigne 1967) "Pardonner?" (Paris: Le Pavillon / Roger Maria Editeur 1971). In 1971 erscheinen Ingeborg Bachmann: "Malina. Roman" (Frankfurt: Suhrkamp) und Kurt Vonnegut: "Geh zurück zu deiner lieben Frau und deinem Sohn. Erzählungen", übersetzt von Kurt Wagenseil (Hamburg: Hoffmann u. Campe). Bislang in der gesellschaftlichen Debatte weniger Beachtete wie Karl Korschs "Kernpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine quellenmäßige Darstellung" (Leipzig: Viva 1922) werden nachgedruckt, das genannte Werk in Hamburg bei der sog. "Spartakus-GmbH" 1971, und die Europäische Verlagsanstalt in Frankfurt gibt 1971 "Die materialistische Geschichtsauffassung und andere Schriften" des 1961 verstorbenen deutsch-amerikanischen, dem Leninismus gegenüber kritisch eingestellten Philosophen heraus.

Die Sowjetunion startet am 19. April mit der Saljut 1 die erste Raumstation, Erich Honecker, maßgeblicher Organisator des Baus der Berliner Mauer im August 1961, setzt Walter Ulbricht ab und wird am 3. Mai 1971 als sein Nachfolger Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED in der Ostrepublik. Honeckers grundsätzliche Haltung beschreibt einige Jahre später Udo Lindenberg in seinem Song "Sonderzug nach Pankow" vom 24. Januar 1983: "Och Erich ey bist du denn wirklich so ein sturer Schrat".

Im Juni 1971 spielen Frank Zappa & the Mothers live auf dem Fillmore East mit dem Song "The Mud Shark" auf ein Homevideo von Musikern anderer Bands von 1969 an, "[a] succulent young lady! Nooo! With a taste for the bizarre ... [...] the members of The Vanilla Fudge told Don Preston about a home movie they made at the Edgewater Inn ... with a mud shark [...] You do the Mud Shark, baby"; "es handelte sich offensichtlich nicht um eine konsensuelle BDSM-Session mit klaren Regeln, sondern um einen Überrumpelungs- und Überraschungsmoment zum Gaudium der Bands [der Artikel nennt noch Led Zeppelin] und der Öffentlichkeit" (Sonja Eismann: "Das Rammstein-Syndrom. Junge Frauenkörper als Wegwerfware", in: "Blätter für deutsche und internationale Politik", Ausgabe August 2023, S. 47-54).

1971 war die Erstaufführung von "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" von Rosa von Praunheim. Am 01. August 1971 findet in New York ein Benefiz-Konzert für Bangladesch statt, im Herbst 1971 versendet Ray Tomlinson bei Bolt Beranek and Newman Inc. die erste E-Mail - oder kann seine Arbeit an terminals, networks & protocols für die vom Verteidigungsministerium geförderte Weiterentwicklung des zuerst 1969 im Kontext des Advanced Research Projects Agency Network (arpanet) veröffentlichten Betriebssystems TENEX auf DECsystem-10-Computern zumindest medienwirksamer verkaufen als andere (J.A.N. Lee: "Some Great Myths of the History of Computing", in: "Human Choice and Computers. Issues of Choice and Quality of Life in the Information Society", hrsg. von Klaus Brunnstein und Jacques Berleur, New York: Springer 2013, S. 61-76, insb. S. 71f.), "[t]he next release of TENEX went out in early 1972 and included the version of SNDMSG with network mail capabilities" (Ray Tomlinson: "The First Network Email", Homepage von vor 2006). Mit den Datenkompressions-Algorithmen LZ77 and LZ78, veröffentlicht in Papers von Abraham Lempel und Jacob Ziv 1977 und 1978, werden später formatierte Datencontainer möglich, wie das Graphics Interchange Format (.gif), veröffentlicht am 15. Juni 1987, oder das ZIP-Archivformat (.zip), veröffentlicht am 14. Februar 1989.

Abb. "Technische Sammlungen Dresden, Juke Box im Radio-Archiv" von Kinsme unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0 (modifiziert). Die A-Seite des letzten Albums "Pearl" (1971) von Janis Joplin endet mit dem Song "Buried Alive in the Blues", aufgrund ihres Todes während der Aufnahmephase ohne Vocals-Spur.

(2) Bücher in der Bibliothek Kurt Wagenseils (Stand 2002; die Bücher können teilweise auch von anderen Familienmitgliedern stammen), erschienen zwischen 1969 und 1971 (ohne Vonnegut und Miller):

(1969) Hans Domnick: "Traumstraße der Welt. Auf der Panamericana durch Nord- und Südamerika" (München: Süddeutscher Verlag); Iring Fetscher: "Kommunismus. Von Marx bis Mao Tse-tung" (München/Wien/Basel: Desch); Max Frisch: "Rip van Winkle. Hörspiel" (Leipzig/Stuttgart: Reclam); Heinrich Heine: "Rimini" (Hamburg: Hoffmann & Campe); Betty Kelen: "Mätressen. Skandale an europ. Fürstenhöfen des 19. Jh." (Hamburg: Rowohlt); Harold Nicolson: "Tagebücher und Briefe 1930-1941", übersetzt von Helmut Lindemann (Berlin: S. Fischer); Diether Stolze und Michael Jungblut: "Der Kapitalismus. Von Manchester bis Wall Street. Texte, Bilder und Dokumente" (München: Desch); Gore Vidal: "Myra Breckinridge", übersetzt von Philip Weiler (Berlin: Kiepenheuer-Witsch); Oliver Warner: "The Life of Sir Charles Lambe. Admiral of the Fleet" (London: Sidgewick&Jackson****/14).

(1970) Harold Acton: "More Memoirs of an Aesthete" (London: Methuen); Alfred Chester: "Brooklyn Blues" (Desch: München); Erich van Däniken: "Zurück zu den Sternen. Argumente für das Unmögliche"****/15 (Düsseldorf/Wien: Econ); A.F. Dorian: "Dictionary of Science and Technology. German-English" (Amsterdam/London/New York: Elsevier); Erika Drave und Gebhard Streicher: "München" (München: Süddeutscher Verlag); Ronald Firbank: "Die Exzentrizitäten des Kardinals Pirelli betreffend" (München: Hanser); Jean-Jacques Khim: "Jean Cocteau. Sein Leben - ein Meisterwerk" (München: Desch); Hardy Krüger: "Eine Farm in Afrika" (Hamburg: Rowohlt); Maria Matray und Answald Krüger: "Der Tod der Kaiserin Elisabeth von Österreich oder Die Tat des Anarchisten Lucheni" (München: Desch); Alexander Ziegler: "Labyrinth. Report eines Außenseiters"****/16 (München: Desch).

(1971) William Anderson: "Burgen Europas von der Zeit Karl des Großen bis zur Renaissance" (München: Süddeutscher Verlag); Albert Cohen: "Das Buch meiner Mutter" (München: Desch); J. Albrecht Cropp: "USA. Zwischen New York und San Francisco" (München: Süddeutscher Verlag); Edward Estlin Cummings: "Fairy tales. Märchen zweisprachig", übersetzt von Hanne Gabriele Reck (München: Langewiesche-Brandt); Ann Shirley Grau: "The Condor passes" (New York: Knopf, übersetzt von Kurt Wagenseil als "Der Kondor", Hamburg: Rowohlt 1972); Ernest Hemingway: "Inseln im Strom", übersetzt von Elisabeth Plessen und Ernst Schnabel (Hamburg: Rowohlt); Hugh Johnson: "Der große Weinatlas. Die Weine und Spirituosen der Welt" (Bern: Hallwag); Erwin Maderholz: "Bayerisches Briefmarkenalbum" (München: Süddeutscher Verlag); James Morris: "New York. Wo alle Schiffe landen", übersetzt von Ursula Pommer****/17 (München: Paul List); Harold Nicolson: "Tagebücher und Briefe 1942-1962", übersetzt von Helmut Lindemann (Berlin: S. Fischer); Helga Niemeyer: "Hundert mal zwei Minuten. Kürzestgeschichten aus der europ. Literatur" (München: Langewiesche-Brandt); Charles Raw, Bruce Page und Godfrey Hodgson: "Gebt uns Euer Geld, Wir machen Euch reich. Die Geschichte der IOS", Untertitel: "Das abenteuerliche Spiel der IOS mit Tausenden Verführten. Aufstieg, Größenwahn und Zerfall eines Milliardenunternehmens", übersetzt von Wulf Bergner u.a. (München: Desch); Walter Slotosch: "Das Geld mit dem wir leben müssen. Panorama der Weltinflation. Die Deutsche Mark 1950-2000" (München: Desch); "Gift from the Douglas M. Duncan Collection" (Ottawa: National Gallery of Canada).

Abb. "Terex Bagger im Tagebau Welzow Süd" (2014) von Onkel Holz unter Creative-Commons-Lizenz CC-BY-SA 4.0 (modifiziert).

(3) 1969-1971 schreibt Bernward Vesper (1938-1971, gest. am 15. Mai), 6. Kind des völkischen Dichters Wilhelm, genannt Will Vesper (1882-1962), selbst Vater eines 1967 geborenen gemeinsamen Sohnes mit Gudrun Ensslin, an seinem autobiographischen Roman "Die Reise. Romanessay. Nach dem unvollendeten Manuskript herausgegeben und mit einer Editions-Chronologie versehen von Jörg Schröder" [EA Darmstadt: März bei Zweitausendeins 1977], Hamburg: Rowohlt 1989, S. 16: "Eines Tages wird die Nachricht 'Mickey-Maus ist tot!' bei einer größeren Anzahl Menschen auf der ganzen Erde weit größeres Entsetzen auslösen als Nietzsches Aufschrei 'Gott ist tot!' - die Menschen werden ratlos auf den Straßen stehen: 'Mickey-Maus ist tot! Wer wird der nächste sein?'".

Ebenda, S. 17: "Die Bibel ist verschwunden, doch die Zelle ist geblieben. Und die Zeile. Sie zwingt die Gedanken in einen linearen Prozeß, die Widersprüche erscheinen als Hierarchie, eins 'folgt' aufs andre, also auch aus dem andren, wat schrifft, dat blifft, bleibt gleich für alle, obgleich nicht alle gleich sind. Niemand, der schreibt, kann sich dem Zwang der Linie entziehen. Immer entstehen Zeilen, Geschichten, ohne daß zugleich Gegen-Zeilen, Gegen-Gegen-Geschichten sichtbar würden. Standpunkt und Gegenstand müssen sich auf einer Waffenstillstandslinie einfrieren lassen, die ihnen beiden nicht adäquat ist. Der inner space hängt ja schließlich auch nicht auf einer Linie (daß wir dann mit Sätzen, Wörtern, Buchstaben noch ein bißchen auf der Seite rumrutschen, ändert an der bestehenden Kommunikations-Misere gar nichts)".

Ebd., S. 62f.: "Am Straßenrand stand, wie eine Gottesanbeterin (Alhambra) ein Bagger, die Schaufel am Boden, verlassen. [...I]ch lehnte mich gegen den Bauzaun betrachtete die Zähne des Greifers, die Kabel, den Hebearm und sah die Göttin ganz in Gold, in einem Gewebe aus ziselierten Golddraht saß sie, eine Kreuzung zwischen Sphinx und thebanischem Löwen, verwittert in dem bauchigen Falten, arm- und beinlos, ein mächtiger, quellender Kopfrumpf, auf Krallen schwebend, mit untereinandergeschlagenen Beinen, braumgolden leuchtend, mit grünen tiefliegenden Augen, rubingesäumtem Gewand, Zepter, Krone und Reichsapfel - aber fremd, wie von den großen Flüssen angelandet. Ich war allein mit ihr, sie schwebte, würdigte mich keines Blickes, schaute in eine Zukunft, die keine Rätsel mehr barg, wissend, grausam und doch so, daß sich ihr zu opfern nichts bedeutet hätte, nicht Tod, nicht Verwesung. Sie hätte mich aufgenommen als Asche in die dunklen Höhlungen ihres uralten Metalls".

Ebd., S. 132: "Mein Vater trug eine Schlange um seinen Jägerhut. Die Schlange als Stirnband: mein rotes Haar, zurückgekämmt in einen Knoten gefaßt - wie jene In[...], die zu suchen ich von zu Hause fortlief durch den Wald bis an die Ise, um nie wieder zurückzukehren. Die Hippies, die nackt durch die Wüste von Kalifornien zogen, um einen Ort zu finden, der nur ihnen gehörte, wo sie sich der Magie der Sonne aussetzen und nachts auf Raub ausziehen konnten: dies Klischee birgt alle Träume derjenigen, die hinter den dünnen Wänden der Hochhäuser verkommen."

In Kurt Wagenseils Bibliothek (Stand 2002) gelistet ist Will Vesper: "Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik", 2 Bände, München: Langewiesche-Brandt 1907/1910.

(4) Walter Bauer: "Liebe zu Deutschland heißt Leiden an Deutschland. Briefe aus Kanada 1962-1976", ausgewählt, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Otto Röders, Gifkendorf: Merlin Verlag 1983, S. 352ff. "An Grete Gaupp, Toronto, den 21. November 1971": "My dear Gauppin, [...] Was du mir über die Fernsehsendung 'Ausgeschrieben oder abgeschrieben' [5. November 1971, 21.50 Uhr, 'Ausgeschrieben oder abgeschrieben? Wenn deutsche Schriftsteller alt werden', Film von Werner Hildenbrand****/18] berichtet hast [...], hat mir zugesetzt, und ich will am nächsten Samstag oder Sonntag etwas dazu sagen; ich sollte es nicht nur bei dem Worte 'zugesetzt' lassen. Ich kannte sie ja alle, Ernst Kreuder, [Hans B.] Wagenseil (ein vorzüglicher Übersetzer); von Jokostra hörte ich durch Albert Steen, meinen alten Freund und Buchhändler in Bremen; er dürfte mit mehr Recht - wenn es da Recht oder Unrecht gibt - verbittert sein, denn er verließ Ostdeutschland. Es war ehrenwert von Hochmuth, dem Tertianer als Dramatiker, sich der alten, vergessenen Schriftsteller anzunehmen; aber ich bezweifle, daß sich die Situation ändern wird; und sie könnte sich nur ändern, wenn für Freischaffende eine feste Alterspension eingerichtet wird. Aber mir scheint, als sollte etwas ganz anderes betont werden (ich weiß nicht, ob Hochmuth das getan hat): von einigen Bestsellerautoren, deren Bücher gehen, weil sie einen Marken-Namen tragen (Böll, Grass) abgesehen, ist die Zeit der 'freischaffenden' Künstler vorbei. Der Begriff des 'Künstlers', des 'Poeten', der beruflos seiner Berufung folgt (ich möchte das Wort Berufung beinahe in Anführungszeichen setzen), gehört genauso dem neunzehnten Jahrhundert an wie die Begriffe Marxismus, Kapitalismus, Liberalismus und dergleichen. Wer - so fürchte ich - Gedichte schreibt oder Romane oder Bilder malt, tut es auf sein eigenes Risiko, und dieses Risiko wird zunehmen, und vielleicht werden immer weniger es eingehen wollen. Ich weiß es nicht, aber ich fürchte, daß es so sein wird. Und mir scheint, als erwiese sich auch der alte Gedanke, daß Schriftsteller, Poeten, Maler, Komponisten den 'Geist' ihres Landes verträten, als Illusion. Ich drücke diesen Gedanken sicherlich zu scharf aus, ich muß darüber nachdenken. Dabei ist es natürlich - und absurderweise so, daß trotz des gleichmacherischen 'amerikanischen' Einflusses auf Lebenstil etc. überall die Völker in den gleichen alten Häusern leben und daß ihr Nationalismus blüht. Aber ich spreche aus der Position des Außenseiters, und vielleicht sollte ich dazu überhaupt nichts sagen. Mir tun die alten, vergessenen Schriftsteller leid, die zu ihrer Zeit ihr Bestes gaben und sich nun durch ihr Alter quälen, und vielleicht ist nichts tragischer als der Selbstmord alter Künstler. Georg von der Vring war siebzig, als er in die Isar ging, ein vergessener Mann [am 1. März 1968; Anm.]. Er war ein feiner Poet. Aber ich will darüber mehr sagen. Ich glaube nicht, daß ich das noch könnte: ein Manuskript nach dem anderen an Redaktionen schicken wie Ernst Kreuder es tut; ich könnte es nicht. Und genau das würde passieren, wenn ich in Deutschland lebte. Ich weiß nicht, was hier passieren wird, wenn ich in zwei Jahren spätestens pensioniert werde. Das wird von Umständen abhängen und von mir selber. Das Vergessensein habe ich, wie Du weißt, schon praktiziert, es kann mir eigentlich nicht mehr sehr zusetzen."

****/10 "Gerhard Szczesny (* 31. Juli 1918 in Sallewen, Ostpreußen; † 28. Oktober 2002 in München) war ein deutscher Philosoph, Publizist und Journalist. 1961 begründete er zusammen mit Fritz Bauer und Erwin Fischer die Humanistische Union in München, deren Vorsitz er von 1961 bis 1968 ausübte. Von 1962 bis 1968 leitete er den von ihm gegründeten Gerhard Szczesny Verlag", z.B. Bertrand Russell: "Warum ich kein Christ bin" [EA "Why I Am Not a Christian', London: Watts & Co., 'for the Rationalist Press Association Limited', 1927], aus dem Englischen von Marion Steipe, München: Szczesny Mai 1963, 2. Auflage Juli 1963, im Jahr 1963 eine Woche lang auf dem Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste; Jean Améry [d.i. Ha(n)ns Mayer]: "Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten", 1966. Er gab die Zeitschrift "Club Voltaire - Jahrbuch für kritische Aufklärung" (München, Szczesny 1963-1967, Bände 1-3; Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 1963-1970, Bände 1-4) heraus. "Darin schrieben so gegensätzliche Autoren wie Agnes Heller, Karl Steinbuch, Wolfgang Abendroth, Ernst Topitsch, Günter Grass, Hans Albert oder Alexander Mitscherlich. Der Verlag scheiterte finanziell" (WP). Vgl. "Verlage / Szczesny: So traurig", in: "Der Spiegel", Band 27, 1. Juli 1968.

****/11 Alfred Sohn-Rethel gehörte zu den Bewohner*innen der Künstlerkolonie Berlin-Wilmersdorf.

****/12 Rolf Schwendter: "Theorie der Subkultur", Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag 1971, S. 186: "Das Syndrom der 'Gegen-Eliten' umfaßt zumeist a) den entfremdeten 'Anti-Helden', der versteht, was falsch ist, und auszubrechen versucht, b) den Märtyrer des Systems, c) den aktiven Revolutionär, der mit der Veränderung des Bestehenden ernst macht (Guevara: Begeisterung, Improvisation, Ungeduld, permanente Revolution; Castro: antibürokratische Einstellung, Experimentieren; Mao Tse-Tung: Beschützer der ausgebeuteten Staaten)[,] d) insbesondere bei emotionalen Subkulturen den 'Guru', das kreative, unorthodoxe Leitbild".

****/13 Bereits 1966 erschien Michel Foucault: "Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines", Paris: Gallimard 1966, S. 333: "Nous qui nous croyons liés à une finitude qui n'appartient qu'à nous et qui nous ouvre, par le connaître, la vérité du monde, ne faut-il pas nous rappeler que nous sommes attachés sur le dos d'un tigre?" ("Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften", Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 389: "Wir glauben uns an eine Endlichkeit gebunden, die nur uns gehört und die uns durch das Erkennen die Welt öffnet, aber müssen wir uns nicht daran erinnern, daß wir auf dem Rücken eines Tigers sitzen?", s.a. Merve).

Abb. Hu Zaobin: "Tiger", zw. 1908 und 1942, Public Domain (modifiziert). In Edward Theodore Chalmers Werner: "Myths & Legends of China. With Thirty-two Illustrations In Colours By Chinese Artists", London / Bombay / Sidney: George G. Harrap & Co. Ltd. 1922, S. 66: "The Tiger Carries Off Miao Shan", in Cap. X: "The Goddess of Mercy. The Guardian Angel of Buddhism", vgl. S. 251: "As Mary is the guiding spirit of Rome, so is Kuan Yin of the Buddhist faith". Reproduktion Juliet Sutherland, Jeroen Hellingman and the PG Online 2005 [gutenberg.org].

Der Altphilologe und konservative Kulturkritiker Gerhard Nebel antwortet mit dem Essay "Sprung von des Tigers Rücken", Stuttgart: E. Klett 1970, S. 202: "Auch der Chemie hat sich die Amüsierindustrie bemächtigt. [...] Der Jugend setzt bei ihrer Vitalität und ihrem Tatendrang die Ausgeleertheit der Welt besonders zu, sie ist nicht bereit, sich mit dem Stumpfsinn der ereignislosen Laufbahnen abzufinden, sie greift darum mit Leidenschaft nach den Giften, und niemand, der weiß, wie die Zivilisation mit dem Menschen verfährt, wird ihr deshalb etwas vorwerfen können. Gammler, Hippies, Rocker, Aussteiger sei es der sanften, sei es der brutalen Variante, und neuerdings die Revolution als Ersatz für Marihuana oder LSD".

Den Tigerrücken überführte bereits zuvor ins Feld der westlichen Philosophie Friedrich Nietzsche: "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" [Manuskript 1873, EA Elisabeth Förster-Nietzsche 1896], Werke in drei Bänden, 3. Band, München: Carl Hanser Verlag 1954, S. 309f.: "Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu perzipieren? Verschweigt die Natur ihm nicht das allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!"

Bekannt wurde eine aus chinesischer Dichtung stammende Phrase "Wie der Rücken eines Tigers / Wölbt die Brücke sich aus Jade / Zu dem Pavillon hinüber", als Li-Tai-Po: "Von der Jugend" (3. Satz), in Gustav Mahlers sinfonischem Liederzyklus "Das Lied von der Erde" (Manuskript 1908, Uraufführung posthum 1911), zuerst französisch von Judith Gautier: "Le Livre de Jade" (Paris: Alphonse Lemerre 1867) [gallica.bnf.fr], irrtümlich als Li-Taï-Pé: "Le Pavillon de porcelaine", Übersetzung von Lǐ Bái (李白): "Bankett im Pavillon der Familie Tao" (宴陶家亭子), aus der Tang-Zeit (陶 - táo ist kontextuell Familienname, kann alleinstehend aber "Porzellan, Keramik" bedeuten, vgl. Fusako Hamao: "The Sources of the Texts in Mahler's Lied von der Erde", in:" Nineteenth Century Music", Band 19, Oakland: University of California Press 1995, S. 83-95).

In Kurt Wagenseils Bibliothek, Stand 2002, gelistet ist Li-Tai-Pe: "Gedichte", Nachdichtungen von Klabund, Leipzig: Insel 1915.

****/14 Zu James Knapp-Fisher und seinem Verlag Sidgewick&Jackson vgl. die Artikel von Kurt Wagenseil, Erläuterungen (3) und (4) zum Briefwechsel mit James Laughlin - dabei auch weitere Informationen zu Hector Bolitho - und von Anita von Einsiedel, Gerhardt zitiert Widerstandskreis (US Military Document POLAD 729/45).

****/15 In Kurts Bibliothek, in der sich auch Bestände anderer Wagenseils befinden, sind sehr viele Bücher über Archäologie, Kunstgeschichte und alte Kulturen, nicht nur C.W. Ceram [d.i. Kurt Wilhelm Marek]: "Götter, Gräber und Gelehrte. Roman der Archäologie", Hamburg: Rowohlt 1949, oder Friedrich Matz: "Kreta, Mykene, Troja", Stuttgart: Gustav Kilpper Verlag 1956, oder Leonahrd Woolley: "Ausgrabungen - Lebendige Geschichte", Köln: DuMont 1958, oder der Bildband "Archäologisches Nationalmuseum Athen" von Helene Papadakis und Spyros Meletzis, München: Schnell & Steiner 1963. Die Beziehung zu dem befreundeten Archäologen Lord William Taylour ist nahezu familiär. Es ist also eher anzunehmen, dass die Lektüre Dänikens aus der Perspektive eines bereits archäologisch gebildeten Laien geschah, oder dass das Buch einem jüngeren Familienmitglied gehörte.

****/16 Alexander Ziegler: "Labyrinth. Report eines Außenseiters", [EA München: Desch 1970, geschrieben im Gefängnis 1966-68], Frankfurt: Fischer 1980, "Über dieses Buch": "Alexander Ziegler, der es als Schauspieler und Schriftsteller bereits zu Ansehen und Erfolg gebracht hat, schreibt in der Gefängniszelle über sein Leben in einer Welt, die ihm zum Gefängnis geworden ist. Sein Bericht ist keine Fiktion, sondern bitterste Wirklichkeit, sein Leidensweg ist nicht nur ein persönliches, sondern auch ein exemplarisches Schicksal. In der Untersuchungshaft notiert Alexander Ziegler seinen authentischen schonungslosen Report, der zu einer harten Anklage gegen die Justiz und eine selbstgerechte Gesellschaft wird. Die Niederschrift, mit der er sich Mut zum Weiterleben macht und sich gleichzeitig rückhaltslos dem Urteil der Öffentlichkeit stellt, beginnt am Heiligen Abend im Untersuchungsgefängnis, in das er wegen Unzucht mit einem Minderjährigen eingeliefert wurde, und endet mit der Verurteilung und Überführung in die Strafanstalt. In vielen Rückblenden erinnert er sich an seine Kindheit, an die leidvollen Erfahrungen später in einer Welt, die ihn, den Homosexuellen, zum Außenseiter der Gesellschaft stempelte und in ein imaginäres Getto verbannte, berichtet er von der trotz des Verzichts auf illusionäre Ausschmückung faszinierenden Welt des Theaters und Films, in der er zu Hause war, begegnen dem Leser berühmte und auch bereits legendär gewordene Namen wie Jean Cocteau. Dieser Report durch ein Labyrinth von Diskriminierung und Verfolgung, immer auf der Suche nach Liebe und immer im verzweifelten Kampf um Glück, endet, wie er in unserer Gesellschaft noch immer enden muß - ausweglos. Die Fortsetzung dieses Tatsachenberichts ist der dokumentarische Roman 'Die Konsequenz' - ein Buch, das Aufsehen erregte ebenso wie seine vieldiskutierte Verfilmung von Wolfgang Petersen".

Auch "Die Konsequenz" (Zürich: Schweizer 1975) ist in Kurt Wagenseils Bibliothek enthalten.

****/17 Ursula Pommer porträtiert Kurt Wagenseil in Form eines narrativen Interviews, Börsenblatt Nr. 89 vom 5.11.1976, S. 1662f.: "Übersetzer in Deutschland (4): Kurt Wagenseil. Der Mann, der Henry Miller nach Deutschland brachte". Es enthält die einzige bekannte öffentliche Äußerung Kurts über seine Internierung im Konzentrationslager Dachau. Außerdem übersetzt Ursula Pommer gemeinsam mit ihm Len Deighton: "SS-GB. Thriller", München: Heyne 1980.

****/18 Hans B. Wagenseil in "Ausgeschrieben oder abgeschrieben", ZDF, 5. Nov. 1971: "Tja, wenn ich jetzt mal so überlege, wie das alles so gekommen ist, es ist nicht so mit einem Ruck auf einmal die Änderung da, sondern es [...], still wird es um einen, ich meine jetzt die Aufträge, die Nachfrage, und dann: gibt ja auch junge Leute, die wollen auch noch ran. Mit Recht! Ich kann nur hoffen, dass vielleicht manche meiner früheren Freunde [unter die ...?], aber das ist ja kein Standpunkt. Ich weiß es ehrlich gesagt eigentlich nicht. Das Einzige, was ich dagegen in die Waagschale zu werfen habe, ist, dass ich mein ganzes Leben lang in diesem Sinne ein unsicherer Kandidat war, ich habe einfach das [...] Leben gewagt, und es wird mich auch jetzt nicht lange fragen, es wird schon über mich bestimmen, hoffen wir, dass es einigermaßen gnädig ist".

Hans B. Wagenseil stirbt am 19. Dezember 1975.

Abb. Vorlage Fotoaufnahme eines Bildschirms, Hans B. Wagenseil in der ZDF-Sendung "Ausgeschrieben oder abgeschrieben", aufgenommen in einem Krankenhaus oder Altersheim, am 5. Nov. 1971.

OVB Rosenheim, 02. Januar 1971, S. 20: Jean Ernest Reynaud (1806-1863): "Die Tage des Anarchisten", übersetzt von Hans B. Wagenseil: "Zweifellos haben die Jahre kurz vor Anbruch der 'Belle Epoque' eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer heutigen Zeit. Damals versetzten anarchistische Gewalttäter und vor allem ein gewisser Ravachol heute ein legendärer Name [François Claudius Koenigstein, oder Ravachol, 14. Okt. 1859 - 11. Jul. 1892] - ganz Paris in berechtigten Schrecken. Alles was in diesen Jahren 1889 bis 1891 die Pariser Polizei dachte und tat, geschah in Beziehung auf Ravachol. In den verschiedenartigsten Stellungen und Gewandungen war sein Bild verbreitet. Es klebte an jedem Straßenzaun. In jedem Einbrecher, jedem Taschendieb, jedem Spitzbuben überhaupt sah man den berühmten Banditen [...]".

 

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Personenregister (Übersetzungen etc.)
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