mit Bezug zu: Jean Améry, Jean-Paul Sartre, Moishe Postone, Alastair, Hans B. Wagenseil, Kurt Wagenseil
Wolfgang Martynkewicz: "Salon Deutschland. Geist und Macht 1900-1945", Berlin: Aufbau 2009.
Produktbeschreibung des Verlags: "Über vierzig Jahre, von 1898 bis 1941, war das Haus des Münchner Verlegerehepaars Hugo und Elsa Bruckmann ein Treffpunkt der großen Geister, der Künstler, Literaten, Musiker und Gelehrten. Mit dem Auftritt Adolf Hitlers wurde der Salon zum Schauplatz, an dem das Unvereinbare zusammenkam: eine hochgeistige und kunstsinnige Elite und die radikale Rechte.
Gestützt auf zahllose Dokumente erzählt Wolfgang Martynkewicz ein provokantes Kapitel deutscher Geschichte, das geradewegs in die Abgründe und Katastrophen des 20. Jahrhunderts führt und zu dem Experimentierfeld zurückkehrt, das die Moderne zuallererst war.
Man dachte groß von der Kunst und der Literatur im Haus des Verlegerehepaars Hugo und Elsa Bruckmann. Man glaubte an die kultivierende Kraft, die das Leben umgestaltet, reinigt und erneuert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam ein elitärer Kreis von Künstlern und Literaten zusammen, eine sich unpolitisch verstehende Opposition, die ein gemeinsames Gefühl einte - das Unbehagen an der Moderne. Im Salon Bruckmann rezitierten Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George ihre Gedichte, der Gelehrte Norbert von Hellingrath dozierte über die Lyrik Hölderlins, der Münchner Jugendstilarchitekt Richard Riemerschmid forderte eine Gesellschaft des 'guten Geschmacks', der Kulturphilosoph Rudolf Kassner sprach von menschlicher Größe, die nur dann zur Wahrheit komme, wenn sie sich über das 'Vulgäre, Willkürliche und Mittelmäßige' erhebe, Harry Graf Kessler erzählte von Paul Gauguin, Pierre Bonnard und dem Bildhauer Maillol, und auch Thomas Mann schaute gelegentlich vorbei. Im Mittelpunkt der Geselligkeiten standen die Charismatiker, die Visionäre und Geistesaristokraten. Nach dem Ersten Weltkrieg machte der Salon eine bemerkenswerte Entwicklung durch: Das Verhältnis zur Macht veränderte sich. Im Dezember 1924 trat erstmals Adolf Hitler im Salon auf. Von nun an gehörte er mit Rudolf Heß und Alfred Rosenberg zu den Habitués. War im Hause Bruckmann ein Gesinnungswandel eingetreten? Oder liegen die Gegensätze doch enger beieinander, als es auf den ersten Blick erscheint?"
S. 448: "Der 'Jude' war ein Symbol, durch ihn bekam die Angst einen Namen und eine Richtung. In ihm sahen viele Intellektuelle den 'Inbegriff geheuchelter bürgerlicher Wertvorstellungen, er stand für das Unechte und Wurzellose. Was diese Intellektuellen im Nationalsozialismus sahen', so Saul Friedländer, 'was auf sie (neben anderen wichtigen Dingen) an der Hitlerbewegung anziehend wirkte, war die Vision einer vom jüdischen Geist gereinigten Moderne.' Den 'jüdischen Geist' aber identifizierten sie, wie Hitler, nicht mit der Konfession, sondern mit einer an materialistischen Werten orientierten Lebensform - die galt es zu bekämpfen. Diese Perspektive hatte zuvor schon die Avantgarde auf ihre Fahnen geschrieben, ohne freilich antisemitisch zu argumentieren. [Wassily] Kandinskys* Programmschrift 'Über das Geistige in der Kunst' aus dem Jahr 1911 richtete sich gegen den 'Alpdruck materialistischer Anschauungen, welche aus dem Leben des Weltalls ein böses zweckloses Spiel gemacht haben, sein Plädoyer galt einer Kunst, die 'der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele' diente. Heil und 'gesund' werde das Leben erst, wenn es von allen Miasmen des materiellen Seins gereinigt und die Geltung 'höherer Zwecke, dessen Pflichten präzis, groß und heilig sind', anerkannt werde. 'Perioden des Niederganges', so Kandinsky, sind durch ihre materielle Orientierung** gekennzeichnet: 'Die Menschen legen zu diesen stummen und blinden Zeiten einen besonderen ausschließlichen Wert auf äußerliche Erfolge, sie kümmern sich nur um materielle Güter und begrüßen einen technischen Fortschritt, welcher nur dem Leibe dient und dienen kann, als eine große Tat.' Kandinskys Ästhetik wollte die große Synthese: Nicht nur das Leben, auch der Staat und das gesamte Volk sollten durch die Kunst entmaterialisiert werden und zu einer neuen ideellen Einheit finden".
S. 568, Anm. 6-11, beziehen sich auf Saul Friedländer: "Die Faszination des Nationalsozialismus", in: "Die Verführungskraft des Totalitären", hrsg. von Klaus-Dietmar Henke, Reihe "Berichte und Studien", Nr. 12, Dresden: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. 1997, S. 25-30 [hait.tu-dresden.de], hier S. 28f., und Wassily Kandinsky: "Über das Geistige in der Kunst", Berlin: Benteli 1952 [digi.ub.uni-heidelberg.de: 3. Auflage München: Piper 1912], S. 22, S. 134f. und S. 31.
Abb. "Karolinenplatz 5, Prinz-Georg-Palais" von Rufus46 (2011) unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0 (modifiziert). "Von Ende 1908 bis 1931 residierten Elsa und Hugo Bruckmann, Verleger von Houston Stewart Chamberlain, in der zweiten Etage des Palais, wo sie immer freitags ihren Salon Bruckmann abhielten, der zuvor bereits seit Januar 1899 in der Nymphenburger Straße 86 stattgefunden hatte" (WP, 2023).
[ Anmerkungen. annotations. remarques ]
* Brief von Arnold Schönberg an Wassily Kandinsky, Mödling, 19. April 1923, in: "Briefe", hrsg. von Erwin Stein, Mainz: B. Schott's Söhne 1958, S. 90, Nr. 63:
"Lieber Herr Kandinsky,
Denn was ich im letzten Jahre zu lernen gezwungen wurde, habe ich nun endlich kapiert und werde es nicht wieder vergessen. Daß ich nämlich kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch bin (wenigstens ziehen die Europäer die schlechtesten ihrer Rasse mir vor), sondern, daß ich Jude bin.
Ich bin damit zufrieden! Heute wünsche ich mir gar nicht mehr eine Aus- nahme zu machen; ich habe gar nichts dagegen, daß man mich mit allen andern in einen Topf wirft. Denn ich habe gesehen, daß auf der Gegenseite (die ja für mich nicht weiter vorbildlich ist) auch alles in einem Topf ist. Ich habe gesehen, daß einer, mit dem ich gleiches Niveau zu haben glaubte, die Gemeinschaft des Topfes aufgesucht hat; ich habe gehört, daß auch ein Kandinsky in den Handlungen der Juden nur Schlechtes und in ihren schlechten Handlungen nur das Jüdische sieht, und da gebe ich die Hoffnung auf Verständigung auf. Es war ein Traum. Wir sind zweierlei Menschen. Definitiv!
Deshalb werden Sie begreifen, daß ich nur noch dasjenige tue, was zur Erhaltung des Lebens nötig ist. Vielleicht wird eine spätere Generation wieder imstande sein zu träumen. Ich wünsche das weder für sie, noch für mich. Ja im Gegenteil, ich gäbe viel darum, wenn es mir vergönnt wäre, ein Erwachen herbeizuführen.
In meine herzlichen und hochachtungsvollen Grüße mögen sich der Kandinsky der Vergangenheit und der jetzige mit Gerechtigkeitsgefühl teilen".
** Hans B. Wagenseil verwendet während seiner Zeugenaussage vor dem Landgericht München beim Wiedergutmachungsprozess seines Bruders die Formel "Es waren materialistische Menschen", allerdings um die Nationalsozialist*innen zu beschreiben. Gerade seiner Zeugenaussage scheint der Zweck zuzukommen, seinen Bruder von Verdächtigungen in Richtung Homosexualität oder Kommunismus zu entlasten.
Register der Überlieferung der Übersetzungen bis 1950
wenn ich Ihren Brief vor einem Jahr bekommen hätte, würde ich alle meine Grundsätze fallen haben lassen, hätte auf die Aussicht, endlich kom- ponieren zu dürfen, verzichtet, und hätte mich, den Kopf voran, in das Abenteuer gestürzt. Ja ich gestehe: noch heute habe ich einen Augenblick geschwankt: so groß ist meine Lust zu unterrichten, so leicht entzündlich bin ich noch heute. Aber es kann nicht sein.
Personenregister (Übersetzungen etc.)
Adressregister
Zurück zum Inhaltsverzeichnis
E-Mail: kriswagenseil [at] gmx [point] de