Maria Mathi: "Wenn nur der Sperber nicht kommt", Gütersloh: Bertelsmann 1955

mit Bezug zu: Jean Améry

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Verwendete Ausgabe: Leipzig: Reclam [1962]. Dr. med. Max Oppenheimer, Haifa, in Freundschaft gewidmet*.

* Peter Paul Schweitzer: "Juden im nassauischen Hadamar", Hadamar 2006, S. C-36: "KELLER Isabella, geb. OPPENHEIMER (1619) * 8.5.1888 H - Eltern: Abraham/Adolf OPPENHEIMER (1605) und Hannchen geb. WINKELSTEIN (1604) - besuchte ab 1894 Töchterschule H - verh. KELLER, geschieden - Putzmacherin - Wohnung und Hutladen Brückengasse 9 - verkaufte dortiges Wohnhaus mit Laden am 24.4.1936 an Privatleute und verzog mit Tochter Ruth (1626) 15.6.1936 nach Frankfurt/M, Lersnerstraße 5 - ihren Garten auf dem Herzenberg brachte 1939 die Stadt H an sich - wanderte von dort mit Bruder Dr. med. Max OPPENHEIMER (1617) nach den USA aus".

Abb. "Liebfrauenkirche in April 2016, Hadamar, Hessen" von Jacques Verlaeken unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 (modifiziert).

 

S. 7 ("Vorwort"): "Wenn mein Heimatstädtchen Altendorf oder Hintertal hieße, hätte ich seinen Namen gewiß nicht in diesem Buch genannt. Denn in allen deutschen Kleinstädten, in denen sich die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hindurch Juden in größerer Gemeinschaft zusammenfanden, verlief ihr Leben wohl in ähnlicher Weise, war es eng verknüpft mit dem Dasein ihrer christlichen Mitbürger, hatten sie nachher das gleiche schlimme Geschick zu ertragen. Lasse ich den Blättern dieses Buches den seltsamen Namen meines Heimatstädtchens mitspielen und mithandeln, so nur als Prolog und Melodie, nicht als den Ort wahrer Begebenheiten, die sich jedoch auch dort geradeso hätten abspielen können, wie es andernorts geschah. Wird hier und da ein Name laut, der in dem kleinen Ort wirklich heimisch war und es noch ist, wurde er hauptsächlich deshalb festgehalten, weil er, mit meinen Kindheitserinnerungen aufs engste verbunden, mir noch jetzt mehr bedeutet als ein bloßer Name, und zu manchem dieser Namensträger paßte auch sein hier gezeichnetes Charakterbild".

S. [9]: [1. Teil] "Zehn Uhr. Der Wolf kommt noch nicht!"

S. 12f.: "Das Städtchen hat einen seltsamen Namen, einen bemerkenswerten, voll dunkler Melancholie. Die Glocke seiner Totenkirche ruft ihn jeden Abend über das stille Wasser, an das der Kirchhof grenzt, über den tiefen Woog, auf dem ständig Charons Nachen schaukelt. Die Glocke ruft: 'Ha - da - mar, Ha - da - mar!' Damals nach der Jahrhundertwende waren die Bewohner des Städtchens meistens kleine Leute, bescheidene Existenzen, Grasmücken; aber wenn sie sangen, kam man aus dem Staunen nicht heraus. Die paar 'Besseren', Beamte, Lehrer, Kaufleute, hatten sich angepaßt, fielen nicht auf, drehten den Groschen geradeso ängstlich um, feierten ihre bescheidenen Feste, wie alle sie feierten, und ein Ereignis für eine Familie war ein Ereignis für die ganze Stadt".

S. [109]: [2. Teil] "Elf Uhr. Der Wolf kommt noch nicht!"

S. 122f.: "Vor so viel Bitterkeit blieb Siegfried [Güldenstein] hilflos stehen; sie waren bis zur Alten Brücke gekommen, und gerade unter dem heiligen Nepomuk verhielt Siegfried den Schritt. Michael wollte ihn weiterziehen, doch da läutete es von der Liebfrauenkirche zur Fastenandacht, und der tiefe, dumpfe Glockenton fiel schwer hinunter ins Tälchen der Elb, als wollte es die Stunde erschlagen. 'Horch, die Glocke von Hadamar!' Michael blickte auf, es war ihm, als müsse er die Glocke wie ein urweltliches Flügeltier daherfliegen sehen; die Giebel schienen sich schon vornüber zu neigen vor seinem Anflug. Die alte Glocke, von der ein Dichter gesungen hatte, gedenkend des blutigen Opfers einer liebenden Frau:

'Es zog der Mönch zur Mette das Seil,
die Glocke war heut tot -
er riß zum zweiten am Glockenseil,
da ward es blutigrot.'

Michael sagte die Verse vor sich hin, leise schaudernd wie immer, wenn er der Ballade gedachte. Und Siegfried fuhr in gleicher Ergriffenheit weiter:

'Anschlug er den Klöppel zum drittenmal,
da klang ein Schrei so schrill,
ein Schrei voll wildverzweifelnder Qual,
dann ward es totenstill.'"

S. 159f.: "Und es regnete, regnete in Strömen, tagelang, eine ganze Woche hindurch. Die gelben Lehmbäche stürzten sich aus dem Herzenbergweg auf den geneigten Marktplatz, flossen hinunter, füllten die Gassen und Gäßchen, sammelten sich in den Dolen, die ihre sprudelnde Brühe in den Elbbach ergossen. Schwarzgrau hing der Himmel über der Erde; es sah aus, als stächen die alten Bäume auf den Hügeln in ihn hinein - riesige Dornen, den Tränensack einritzend. Die schönen großen Champignons zwischen den herbstlichen Gräsern auf dem Galgenberg lösten sich unter den Fingern auf, ein zäher Milchbrei. Wer an den Äckern mit Spätkartoffeln vorüberkam, hatte den Geruch von Fäulnis in der Nase - die Angst kroch kalt das Rückgrat hinunter, die Angst vorm Hunger. Oktober 1918! Die endlose Flut stürzte vom Himmel, man schluckte, man schmeckte die Bitternis. Noch donnerte es im Westen, noch floß das Blut, darüber der Himmel so endlos weinte".

S. 162: "Dann kam das Ende, der Krieg war verloren, der Kaiser in Holland, die Republik ausgerufen. Als einer der ersten kehrte der blonde Halbgott, Sonjas Sohn [Stanislaus], zurück, die rote Kokarde des Soldatenrats brannte an seiner Mütze".

S. 168: "Tief bekümmerte es die christlichen Amtsbrüder, daß dem schwerkranken Vorsteher der jüdischen Gemeinde [Weinheimer] der Schmerz zugefügt worden war, die Namen seiner drei im Krieg gefallenen Sonntagsschüler - zu Samuel Blum und Mosche Honi hatte sich noch der Sohn des Kaufhauses Morgenthal gesellt - vom erst kürzlich aufgestellten Kriegermal weggemeißelt zu wissen".

S. 169: "Der Stiefsohn des Lukas, , der Herr Soldatenrat, hatte dem Rot schnell Schwarz und Weiß zugefügt, geradezu über Nacht, als seien die Barrikaden aus Schnee gewesen und in der märzlichen Morgensonne zerflossen. Der Herr Soldatenrat war zum Germanenjüngling geworden, zum Sonnenanbeter. Er stammte aus dem Land der Ordensritter, seine Gestalt, seine Blondheit, der Schnitt seines Gesichts zeugten mehr für ihn als zwölf Ahnen. Keiner im Ort - so hatte er selbst gesagt! - war von den Göttern so vorbestimmt als Führer des völkischen Fähnleins".

S. 182: "Auf den jungen Schreinermeister Stanislaus kam man zu sprechen, wie er mit dem Hakenkreuz im Rockaufschlag herumspazierte und seinem völkischen Fähnlein Reden hielt über die Minderwertigkeit der jüdischen Rasse. Seine Weisheit bezog der nordische Halbgott nun aus dem äußersten Süden des Reiches, die Schriften und Flugblätter häuften sich auf seinem Tisch".

Stanislaus verlobt sich mit Maria, die aber eigentlich Siegfried liebt.

S. 185f.: "Die Glocke stürzte jetzt, von einem stärkeren Windstoß getrieben, förmlich auf Siegfried herunter, gellte ihm entgegen: Ma - ri - a! An der gleichen Stelle wie damals bei Mosches Beerdigung klangen die Worte des Dichters wieder in ihm auf, wurde die Ballade weiter lebendig:

'Und nur die große Glocke hallt
von Hadamar-Abtei
zitternd über den Westerwald
ihren letzten Sterbeschrei.'".

S. 206: "Da riß es Siegfried auf und herum, Maria fiel in seine Arme, eine Ewigkeit hindurch lagen ihre Lippen aufeinander. Fanny [Siegfrieds Mutter] kauerte im Sessel zusammengedrückt, zermalt - der Berg Horeb war auf sie herabgestürzt".

S. [207]: [3. Teil] "Zwölf Uhr - Der Wolf kommt!"

S. 210: "'Aber das ist doch nicht mehr lang, bis ich [Martin, Sohn von Siegfried und Maria] groß bin!' [Maria:] 'Das ist noch eine ganze Ewigkeit! Bis dahin gibt's vielleicht keine Sonne, keinen Mond und keine Sterne mehr'. 'Haha', lachte der Bub, 'Wir sind doch nicht am Märchenerzählen!'".

S. 219: "Hinüber ins Elternhaus kam Maria nun nicht mehr, der Bruder hat sich schnell eine Frau ins Haus geholt; die machte es zur Bedingung: 'Eine Schwester hast du nicht!'".

S. 223: "Als Siegfried an jenem ersten Aprilabend von der Bahn kommt, sieht er schon von weitem ein großes Plakat an seiner Haustür; die kurzsichtigen Augen entziffern die Inschrift erst, als er ganz nahe ist:

Siegfried Güldenstein
Maria Güldenstein:
Sie verfallen der öffentlichen Ächtung!

Dann, etwas später, die Qual für Maria: sie muß vor Gericht erscheinen, soll aussagen, warum sie die Verlobung mit Stanislaus so plötzlich gelöst hat. 'Volkes Stimme ist Gottes Stimme' Das war eines der neuen Schlagworte; [...]".

S. 243: "Urbans Karl [Vater Marias] konnte nur vor einer Tür [der von Fannys Haus] stehen; so wurden die anderen Türen eingeschlagen. Krachen, Splittern, Klirren überall - ein gespenstischer Polterabend! Hinter den verriegelten Haustüren zitterten die Christen, kämpften mit ihrer Angst, kämpften mit einem Entschluß, weinten, beteten. Das Gebet aller Gebete wäre die Tat gewesen; wer aber konnte sie verlangen im Jahre neunzehnhundertachtunddreißig, wenn Petrus sie im Jahre dreiunddreißig nicht zu vollbringen vermochte".

S. 244: "[Kattche zu Elsa, Frau von Moritz, über Tante Rekka:] 'Soll ich in Reichweins laufen, in Marings, in Germeroths? Irgendwohin zu guten Leuten, damit sie die Frau aufnehmen? Der Germeroths Willy hilft uns bestimmt, er hat immer noch keine Angst, mit dem Moritz und dem Siegfried zu reden, und wär's am hellen Tag mitten auf Schweitzers Eck!'".

S. 275f.: "Am folgenden Samstag kam Kattche wieder in die Stadt, nahm zuerst seinen Weg in die Kirche. Dahinein war sie jahrzehntelang gegangen, hatte jahrzehntelang alle vier Wochen im selben Beichtstuhl gekniet, um seine paar läßlichen Sünden zu bekennen. An diesem Samstagnachmittag bekannte es keine Sünden, nur einen ganz großen Entschluß, der ihm die Sünde aller Todsünden zu sein schien, aber das war ihm einerlei. Als der Pfarrer sein Gesicht aus dem weißen Tüchlein hob, in dem er sich nach dem Bekenntnis der Vorgängerin gesammelt hatte, steiß das Kattche ohne jede vorbereitende Forme hervor: 'Ich will kein Christ mehr sein!' Verblüfft gab sich der alte Herr einen Ruck, schaut das seltsame Beichtkind an, er kannt das Kattche seit seinen jungen Mädchenjahren, hatte sich immer an seiner Harmlosigkeit gefreut. Nun stutzte er, dann aber glitt ein stilles Lächeln über sein weises Gesicht. 'Ja Kattche, du hast recht!' sagte er. 'Jetzt mit den Juden ein Jude sein, das ist Gott lieb.' So erschrocken war das alte Mädchen über diese Zustimmung, daß es kopflos die Formel des Beichtschlusses herunterleierte".

S. 278: "'Ich hab' sie [Sonja] gefragt, wie es ihrem Sohn geht, dem Stanislaus', erzählte in der Metzgerei eine Kundin im Kreise Gleichgesinnter, 'da hat sie geantwortet: Oh, dem geht es ausgezeichnet, er ist in Polen so eine Art Landrat.' Der Meister Löhle hinter der Theke hielt das Hackbeil einen Moment ruhig überm Knochen in der Luft, dann schlug er zu, daß die Splitter flogen. 'Reimt sich!' nickte er. 'Landrat und Schandtat.' Aber die wahrsten Worte, die bittersten Worte halten das wild gewordene Gespann nicht auf. Kommt ein Kind unter die Räder, dann ist es ein Unglück und ein Schicksalsschlag - wird es von rohen Händen unter die Hufe geschleudert, dann ist es Mord".

S. 280f.: "Als Elsa vom Fenster herunterrief, wer da sei, ward ihr der barsche Bescheid gegeben: 'Elsa Sarah Blum ist dienstverpflichtet nach Bochum, hat sich heute früh um neun Uhr mit zehn Kilo Gepäck und zehn Reichsmark am Rathaus einzufinden!' 'Ich komme', sagte Elsa, sagte es zu Samuel [älterer Bruder von Moritz, vor seinem Tod Verlobter Elsas], der ihr so lang schon vorausgegangen war. Da standen sie denn an der Ecke des alten Gebäudes, das auch im Dreißigjährigen Krieg manches Häuflein Elend um sich versammelt gesehen hatte. Aber damals waren die Quäler von außen gekommen, jetzt reckte der schreckliche Oberst Görzenich seinen wilden Kopf aus dem kleinen Kreis der eigenen Heimatgemeinde. Da standen die ins Ruhrgebiet verpflichteten Mädchen und Frauen, ihr abgewogenes Bündel in der Hand, in den Augen die große Trauer. Aus dem holprigen Pflaster, das sich feucht beschlagen hatte, den kommenden Regen ankündend, ringelte sich das Ungewisse an ihren Leibern hinauf, legte sich in ihre Herzgruben. All der Basalt ihres Vaterstädtchens, ihres Mutterlandes, war in Kugeln gegossen, zentnerschwer; jedes Herz bekam die seine zugeteilt - so setzte sich der kleine Zug in Bewegung".

S. 281f.: "Langsam näherte sich ein großer Omnibus von der Faulbacher Straße her, polterte auf die Brücke. Hinter den Scheiben baumelten Püppchen, Bälle in Netzen, buntgestickte Beutelchen, [...]. Es waren denn auch lauter Kinder, die den Wagen füllten [...]. Der Omnibus [...] schob sich an den Frauen im Ausweichbogen entlang; ehe er ganz vorüber war, da

'klang ein Schrei so schrill,
ein Schrei voll wild verzweifelnder Qual -
dann ward es totenstill...'".

S. 283f.: "Mit stockenden Herzen sahen die Frauen den Wagen anrücken, ihn aufwärts fahren, in die neue Straße zum Mönchsberg einbiegen. Johanna Neuhaus lehnte sich, an allen Gliedern zitternd, gegen die Mauer des Pferdestalls, der dem Weg zum Bahnhof engend entgegenstand. 'Sie gehn in den Feuerofen' wimmerte sie vor sich hin, doch ihre weichen Knie mußten sich wieder strecken. [...] Wie die schauerliche Nachricht in die bittere Einsamkeit der sieben Alten im Haus des Markus Blum gedrungen war, wußte keiner zu sagen - genug: sie füllte die zwei Stuben und das Loch von Küche bis ins verborgenste Spinnennetz, weitete die engen Mauern ins Unerträgliche; die ganze Hölle fand Platz drin".

S. 285f.: "Aber die Augen sprachen, die Seufzer sprachen, die Poren schwitzten es aus: heimlich war in Hadamar hinter den roten Backsteinwänden der Korrigendenanstalt auf dem Mönchsberg der Feuerofen gebaut worden; er wurde beschickt mit Menschenfleisch. Wie eine ungeheure Trauerfahne hing der schwärzliche Qualm über den Veilchenterrassen, auf denen Elisa Honi blauweiße Mosaik für ihren sterbenden Vater zusammengestellt hatte. Sie und ihr Blümchen [Tochter] gehörten nun zur ersten Fracht, die der feurige Moloch verschlang - Mosche Honis Gesicht hatte sich erfüllt, die fünftausend Jahre seiner Geschlechterfolge rieselten auf das Städtchen herab wie Ruß, von keiner Sintflut mehr wegzuspülen".

S. 299: "Aus dem Feuerofen drang kein Gesang, doch seine Flammen schlugen bis in die entferntesten Täler des Hunsrücks und des Sauerlandes. In einer hessischen Stadt hatte man einen Bahnbediensteten festgenommen und ins Lager gebracht, da er auf der belebten Hauptstraße einem sonderbar anzusehenden Omnibus nachgelaufen war, wild gestikulierend und 'Mörder, Mörder!' brüllend".

S. 306: "Alle Musik hob sich von der Erde weg wie ein Schwarm weißer Tauben, nun lag die Krume da in ihrer erbarmenswürdigen Nacktheit".

 

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