Dr. Israel Rubin: "Personenkultus der Gegenwart", Fanal 1928

mit Bezug zu: "New Statesman" ("After Hindenburg"), Grete Lichtenstein (Erich Mühsam), Fanal-Verlag

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"Der Personenkultus der Gegenwart stellt einen bezeichnenden Beweis des Verfalls der modernen Menschheit dar. Dieser moderne Personenkultus hat nichts mit dem uralten Streit über die Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte zu tun. Die Anhänger der materialistischen Weltanschauung haben der "Persönlichkeit" in der Geschichte im besten Falle immer nur eine minimale Bedeutung beigemessen, aber auch die Anhänger der idealistischen Weltanschauung, die der einzelnen Persönlichkeit mitunter einen dominierenden Einfluß auf den Gang der Weltgeschichte einräumen, müssen bekennen, daß der Personenkultus von heute nicht ihre Sache ist und daß zwischen den großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte und den modernen Diktatoren eine unüberbrückbare Kluft liegt.

Die Herrschernaturen der Weltgeschichte waren in der Regel gezwungen, beim Ergreifen der Herrschaft den natürlichen Widerstand der Volksmassen zu bekämpfen und zu bezwingen; unseren modernen Diktatoren fällt dagegen die Macht ohne irgend einen ernsten Widerstand allzu leicht in die Hände. Die Bezeichnung "von Gottes Gnaden", d. h. vorbestimmt durch das Schicksal selbst, zur Alleinherrschaft berufen, scheint zu keiner Zeit so berechtigt gewesen zu sein als in der Gegenwart. Auch scheinen die Worte der alten russischen Legende über die Berufung der Warjagen: "unser Land ist groß und reich, es herrscht aber keine Ordnung bei uns, kommt uns zu regieren und zu beherrschen", in der Gegenwart wieder aktuelle Bedeutung erhalten zu haben. In ihrer Apathie, ihrer betonten Gleichgültigkeit, in dem vollständigen Mangel an Widerstandskraft, scheinen die Massen den zur Alleinherrschaft Strebenden zuzurufen: "Kommt, regiert, beherrscht uns".

Daß die staatliche Gewalt von einer einzelnen Persönlichkeit ergriffen wird, die mit Massen wie mit Marionetten herumspringt, ihnen ihren Willen und ihre Laune aufzwingt, ist schon längst nichts besonderes mehr; es scheint Infektionskeime zu geben, die diese Erscheinungen zur Epidemie aufwachsen ließen.

Der Name Mussolini ist bereits Sammelbegriff: Pilsudski in Polen, Bratianu in Rumänien, Woldemaras in Litauen, Primo in Spanien und letztens Venizelos in Griechenland, - sie alle sind nichts anderes als Mussolini in verschiedenen Auflagen. Das Verzeichnis könnte mühelos an Hand eines politischen Weltatlas vergrößert werden. Stimmen sie auch nicht in allen Einzelheiten überein - in der Hauptsache sind sie alle gleich: die Diktatur haben sie sich fast widerstandslos angeeignet.

Nun treten aber die Mussolinis als Massenerscheinung nicht etwa nur in solchen großen Gemeinschaften, wie es die staatlichen Gebiete sind, auf, wir finden sie in jeder Art von Gemeinschaften. Fast überall ist es eine einzige Persönlichkeit, die die Macht an sich reißt, ohne von der Gesamtheit daran gehindert zu werden. In der Gegenwart, die sich mit Vorliebe als demokratisch und bereits "für den Kollektivismus reif" gebärdet, ist diese Erscheinung von hohem psychologischen Interesse.

Wir wollen aus dem großen Komplex dieser Erscheinung uns nur drei Momente näher ansehen.

1. Die napoleonische Art aller modernen Diktatoren des Herauftauchens in der Öffentlichkeit, dies plötzliche Aufleuchten ihrer "Genialität" mit dem Anspruch auf die Macht.

Wer hat denn Mussolinis Eigenschaften und Fähigkeiten vor seinem Hervortreten erkannt? Wer hat in dem bescheidenen Provinzlehrer und dem unsicher schwankenden Sozialisten den künftigen "Duce" erraten können? Welcher von den allernächsten Freunden und Genossen Pilsudskis konnte während der revolutionären Arbeit im zaristischen Rußland in dem Organisator geheimer Druckereien und dem Fluchthelfer politischer Gefangener den künftigen Gründer des polnischen Staates und militärischen Spezialisten erkennen?

Wir wollen noch weiter gehen. Wenden wir uns zu Lenin, ohne ihn allerdings auf eine gleiche Stufe mit Mussolini und Pilsudski zu stellen. Wer hätte vor der Oktober-Revolution in dem spezifischrussischen, wortreichen Theoretiker des Sozialismus den künftigen sorgfältigen und praktischen Aufbauer eines neuen, in seiner Eigenart noch nie dagewesenen, Staates erblicken können?

Die Art aller modernen Diktatoren wird durch die Plötzlichkeit ihres Aufstiegs charakterisiert, der sogar für sie selber überraschend ist.

2. Die schon erwähnte außerordentliche Leichtigkeit, mit der die modernen Diktatoren jeden Widerstand beseitigen und die Schnelligkeit, mit der sie die Macht ergreifen.

3. Psychologisch am merkwürdigsten ist die seuchenartige Schnelligkeit, mit der die Volksmassen aus der vordiktatorischen Apathie und Gleichgültigkeit, d. h. aus dem Zustand der Passivität, zur Aktivität übergehen, die sich in einer Verherrlichung des Diktators bis an die Grenze der Vergötterung äußert.

Das größte Unrecht begehen diejenigen, die die Schuld an der Vergewaltigung der Massen allein den Diktatoren in die Schuhe schieben. Es sind die Volksmassen selber, die sich mit krankhafter Wollust unterwerfen und bereit sind, sich immer tiefer zu demütigen und den Diktator auf unermeßliche Höhen steigen zu lassen.

Welche größte geschichtliche Persönlichkeit hätte sich jemals bei gänzlicher Entrechtung des Volkes und der Freiheit einer solchen Popularität und blinden Gefolgschaft rühmen können, wie Mussolini in Italien, oder Pilsudski in Polen?

Die Bibel erzählt von dem Sklaven, der nicht frei sein wollte, der sein Ohr an den Türpfosten nagelte und schrie: 'Ich will nicht frei sein!' Ebenso benimmt sich die Volksmasse, die sich freiwillig dem Diktator unterwirft. Die Freude an der Demütigung führt erst zu den tollsten Mißbräuchen der Diktatur und dadurch zur Andichtung einer nicht vorhandenen Größe des Diktators; der vorhandene Funke einer gewissen Begabung wird zur Riesenflamme aufgeblasen. Diese Erscheinung mutet schon pathologisch an. In der Regel tritt die 'mania grandiosa' (Größenwahn) bei den Kranken nur in Bezug auf ihre eigene Person auf, aber 'mania grandiosa' in Bezug auf eine andere Person, und dazu noch als Massenpsychose, scheint eine neue und schlimmere Art der Erkrankung zu sein.

Ist denn die Verherrlichung einer solchen, zweifellos bedeutenden, Persönlichkeit wie Lenin durch die Kommunisten nicht übertrieben? Ist denn die ewige Zitierung Lenins bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mit demselben religiösen Fanatismus wie von den Missionaren das alte und neue Testament zitiert wird, keine Demütigung? Über Mussolini oder Pilsudski braucht man in dieser Beziehung keine Worte zu verlieren. Nur zu oft sehen wir, wie gewöhnlicher Eigendünkel von einer jeder Überlegung baren Sklavengefolgschaft zur höchsten Weisheit, zur Genialität gestempelt wird.

Welche Schlußfolgerungen sind daraus zu ziehen? Es muß offen ausgesprochen werden, daß dieser wüste Personenkultus, der bei den 'Linken', so gut wie bei den 'Rechten' in Erscheinung tritt, einen überzeugenden Beweis des Verfalles, ein Armutzeugnis sondergleichen für die psychische Urteilsfähigkeit der Gegenwart darstellt. Ist doch, psychologisch betrachtet, jeder Autoritätsglaube ein Minderwertigkeitsbeweis des sich vor der Autorität Beugenden ...

Jedes Plus auf der einen Seite bedeutet ein Minus auf der anderen. Das trifft besonders für die Götzenanbetung der Diktatoren durch die Massen zu. Die Massen sind bestrebt, die Verantwortung für ihr Schicksal im Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit auf einen "Heros" zu übertragen, auch wenn dessen "Herrentum" rein illusorisch ist. Es ist, als ob ein Bettler auf den Reichtum eines Krösus stolz wäre, dessen Reichtum es auch noch überschätzt, oder als ob ein schwaches Kind im Bewußtsein seiner Schwäche sich an der Allgewalt seines Vaters erfreut.

Sollte ein zweiter Spengler einen neuen Beweis für den Verfall des Abendlandes suchen, so würde er keinen zutreffenderen ins Feld führen können als den modernen Personenkultus.

Dr. Israel Rubin".

 

Aus: "Fanal", 3. Jahrgang, Nr. 2, November 1928, digitalisiert von anarchismus.at anhand des Nachdrucks aus dem Impuls Verlag (bearbeitet, Ue zu Ü usw.), unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA-NC 3.0. Eine gekürzte Version des Textes findet sich auch in "Der Syndikalist", 12. Jahrgang, Nr. 3, 18. Januar 1930, S. 2.

 

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