Walter Benjamin (gest. 27. Sept. 1940), Auszug

mit Bezug zu: "Warenform", "Nominalismusproblem", Jean-Paul Sartre, Moishe Postone (Theorien), Grete Lichtenstein, Ursula Pommer (Praxis), Querido-Verlag (Thomas Mann → Romantik), Buenos Aires: Sur, Frankfurt: Syndikat (Burkhardt Lindner, Jürgen Siess), "Neue Weltbühne" ("Die Rettung"), "Es waren materialistische Menschen", IHRA: Definition 2016

 

Walter Benjamin: "Kapitalismus als Religion" [Fragment, 1921], in: "Gesammelte Schriften", Hrsg.: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, Bd. VI, S. 100-102.

"Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie [Max] Weber meint ['Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus', Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 20, 1904, S. 1-54; Band 21, 1905, S. 1-110], als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird dies jedoch überblickt werden.

Drei Züge jedoch sind schon der Gegenwart an dieser religiösen Struktur des Kapitalismus erkennbar. Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da keinen 'Wochentag'< ,> keinen Tag der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes< ,> der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre. Dieser Kultus ist zum dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewußtsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen< ,> um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müßte halten können, noch in der Absage an sie. Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist< ,> das Aushalten bis ans Ende< ,> bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand aus dem die Heilung zu erwarten sei. Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos das [Friedrich] Nietzsche bestimmt*, **. Dieser Mensch ist der Übermensch, der erste der die kapitalistische Religion erkennend zu erfüllen beginnt. Ihr vierter Zug ist, daß ihr Gott verheimlicht werden muß, erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf. Der Kultus wird von einer ungereiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife.

Die [Sigmund] Freudsche Theorie gehört auch zur Priesterherrschaft von diesem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewußten verzinst. Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens findet sich großartig in der Philosophie [Friedrich] Nietzsches ausgesprochen. Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen 'Sprung' nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung. Daher sind Steigerung und Entwicklung im Sinne des 'non facit saltum'*** unvereinbar. Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchgewachsne, historische Mensch. Diese Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religiös (auch für Nietzsche) Verschuldung ist und bleibt< ,> hat Nietzsche pr< ä >judiziert.

Und ähnlich [Karl] Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialismus".

"Nach der Rückkehr aus dieser Haft [im Lager Château de Vernuche in Varennes-Vauzelles; Anm.] im November 1939 schrieb Benjamin seinen letzten Text, die Thesen Über den Begriff der Geschichte. Benjamin flüchtete nach Lourdes, von wo er zunächst weiter nach Marseille reiste, bevor er im September 1940 mit Hilfe von Lisa Fittko den Versuch unternahm, nach Spanien zu gelangen und von dort über Portugal mit seinem USA-Visum auszureisen. Im spanischen Grenzort Portbou [...] nahm er sich in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1940 das Leben" (WP unter Bezugnahme auf Marcel Raabe: "Die letzten Stunden Walter Benjamins", Leipzig: Trottoir Noir 2021, S. 65-67).

Abb. Jules Verne: "Autour de la Lune" [Reise um den Mond], "dessins par Émile Bayard et A[lphonse] de Neuville; gravés par [Henri-Théophile] Hildibrand", Paris: J. Hetzel 1872 [gallica.bnf.fr], S. 128, Bildunterschrift "Il distinguait tout cela" ["Er zeichnete alles aus"].

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques ]

* "Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte, mag äußerlich jetzt siegen welche Gruppe auch immer. Denn: wo nichts ist, da hat nicht nur der Kaiser, sondern auch der Proletarier sein Recht verloren" (Max Weber: "Politik als Beruf. Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Zweiter Vortrag", München und Leipzig: Duncker & Humblot 1919 [wikisource.org], S. 66.

** Friedrich Nietzsche: "Die fröhliche Wissenschaft" [EA 1883], in: "Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden", hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv 1980, S. 480f., Aphorismus 125: "Parabel vom tollen Menschen":

"'Wohin ist Gott?' rief er, 'ich will es euch sagen!
Wir haben ihn getötet - ihr und ich!
Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht?
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen?
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?

Wohin bewegen wir uns?
Fort von allen Sonnen?
Stürzen wir nicht fortwährend?
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten?
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?
Haucht uns nicht der leere Raum an?
Ist es nicht kälter geworden?
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?

Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden?
Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben?
Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen!
Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!
Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? [...]'".

*** Jacques Tissot: "Discours véritable de la vie, mort et des os du géant Theutobocus" [EA Lyon 1613], in: Édouard Fournier: "Variétés historiques et littéraires", Tome IX, Pagnerre 1859 [wikisource.org], S. 248: "natura enim in suis operationibus non facit saltum" ("Die Natur macht nämlich in ihren Abläufen keinen Sprung"). Carl von Linné: "Philosophia Botanica" [EA Stockholm 1751], Wien: Joannis Thomae Trattner 1755 [archive.org], S. 36: "Natura enim non facit saltus" (lateinisch für "Die Natur macht nämlich keine Sprünge").****

**** Assoziativ der Sprung-Metapher nahe ist die Metapher der Notbremse.

Lutz Brangsch: "Revolution: Lokomotive oder Notbremse der Geschichte?", marx200.org, 2017: "Dieser Gegenüberstellung liegt wie so oft ein fatales Missverständnis zu Grunde. Beide Zitatfetzen werden bei Karl Marx bzw. Walter Benjamin aus dem Zusammenhang gerissen und so Aussagen suggeriert, die von beiden nicht getroffen wurden. Gleichzeitig wird den Positionen der eigentlich interessante Inhalt genommen. [...] Man möge sich vor Augen halten, was die 'Locomotive' ['Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte', in: 'Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850', MEW 7, S. 85] im Jahre 1850 war: ein Symbol der Überwindung von Begrenzungen in Raum und Zeit [...]. [...]

Wie geht nun Benjamin an 'sein' Problem heran? Benjamin notiert: 'Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug***** reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.' (Benjamin ['Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlaß / kritische Gesamtausgabe', Bd. 19] 2010, 153) [...].

Hintergrund ist, das wird auf jeden Fall deutlich, die Katastrophe des Faschismus, die untrennbar mit dem völligen Versagen der organisierten Arbeiterbewegung und der demokratisch-bürgerlichen Bewegungen verknüpft war. [...] Der Kern seines Problems wird deutlich, wenn man seine Kritik an der Sozialdemokratie (die man auch auf die kommunistische Strömung ausweiten könnte) und einer dogmatischen Lesart des historischen Materialismus betrachtet:

'Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ist, haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik, sondern auch an ihren ökonomischen Vorstellungen. Er ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs. Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte.' (ebd., 10) Es geht ihm also um die Kritik an mechanistischen Vorstellungen des Zusammenbruchs des Kapitalismus, an 'einem Fortschrittsbegriff... der sich nicht an der Wirklichkeit hielt, sondern einen dogmatischen Anspruch hatte.' (ebd., 23) Insofern ist der letzte Satz übrigens viel wichtiger als das Notbremsen-Bild, wird aber kaum rezipiert".

Abb. auf der rechten Seite "Ever Given ship stuck in the Suez Canal", April 23, 2021 Maxar WorldView3 + Pansharpened True Color Script, von Anja Vrečko, contains European Space Imaging Maxar data processed by Sentinel Hub, unter Creative-Commons-Lizenz CC BY 2.0. Vom 23. März bis 3. April blockierte das Container-Schiff "Ever Given" den Suez-Kanal - mit Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Links Abb. "Notbremsgriff um 1920", von "Stahlkocher", 2005, unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0 (beide modifiziert).

***** Theodor W. Adorno: "Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben" [EA 1951], Frankfurt: Suhrkamp 1971, S. 21: "Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn. dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat; kein Gedanke ist immun gegen seine Kommunikation, und es genügt bereits, ihn an falscher Stelle und in falschem Einverständnis zu sagen, um seine Wahrheit zu unterhöhlen".

 

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