Stefan Zweig: "Die Welt von gestern", Stockholm: Bermann-Fischer 1942

mit Bezug zu: Maria Mathi, Jean Améry (Holocaustliteratur), Jean-Paul Sartre, Moishe Postone, IHRA: Definition 2016 (Analysen), Amsterdam: Querido-Verlag (Klaus Mann), Zürich: Diana Verlag (México: Editorial Diana), Künstlerkommunen - artists' communities (Cap d'Antibes), Kurt Wagenseil (Graf Huin, Hans Graf Huyn), New York: Alfred A. Knopf (Sigmund Freud), "Neue Weltbühne" (Allert de Lange), James Knapp-Fisher → London: Sidgwick & Jackson (Rainer Maria Rilke), Wien: Amalthea (Rainer Maria Rilke), Henri Barbusse, Romain Rolland, Berlin / Teetz / Leipzig: Hentrich & Hentrich

 

Stefan Zweig: "Die Welt von gestern" [EA London: Hamish-Hamilton und Stockholm: Bermann-Fischer 1942, online: dnb.de, Abb. Inhaltsverzeichnis], Frankfurt am Main: S. Fischer 1980, S. 262ff. (Kapitel "Incipit Hitler"):

"Sofort nach dem Reichstagsbrand sagte ich meinem Verleger, es werde nun bald vorbei sein mit meinen Büchern in Deutschland. Ich werde seine Verblüffung nicht vergessen. 'Wer sollte Ihre Bücher verbieten?' sagte er damals, 1933, noch ganz erstaunt. 'Sie haben doch nie ein Wort gegen Deutschland geschrieben oder sich in Politik eingemengt.' Man sieht: all die Ungeheuerlichkeiten, wie Bücherverbrennungen und Schandpfahlfeste, die wenige Monate später schon Fakten sein sollten, waren einen Monat nach Hitlers Machtergreifung selbst für weitdenkende Leute noch jenseits aller Faßbarkeit. Denn der Nationalsozialismus in seiner skrupellosen Täuschertechnik hütete sich, die ganze Radikalität seiner Ziele zu zeigen, ehe man die Welt abgehärtet hatte. So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille und dann einen Augenblick Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen diese Dosis noch vertrage. Und da das europäische Gewissen - zum Schaden und zur Schmach unserer Zivilisation - eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte, weil diese Gewalttaten doch 'jenseits der Grenze' vor sich gingen, wurden die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa an ihnen zugrunde ging.

Nichts Genialeres hat Hitler geleistet als diese Taktik des langsamen Vorfühlens und immer stärkeren Steigerns gegen ein moralisch und bald auch militärisch immer schwächer werdendes Europa. Auch die innerlich längst beschlossene Aktion zur Vernichtung jedes freien Wortes und jedes unabhängigen Buches in Deutschland erfolgte nach jener vortastenden Methode. Es wurde nicht etwa gleich ein Gesetz erlassen - das kam erst zwei Jahre später -, das unsere Bücher glatt verbot; man veranstaltete statt dessen zunächst nur eine leise Tastprobe, wie weit man gehen könne, in dem man die erste Attacke auf unsere Bücher einer offiziell unverantwortlichen Gruppe zuschob, den nationalsozialistischen Studenten. Nach dem gleichen System, mit dem man 'Volkszorn' inszenierte, um den längst beschlossenen Judenboykott durchzusetzen, gab man ein geheimes Stichwort an die Studenten, ihre 'Empörung' gegen unsere Bücher öffentlich zur Schau zu stellen. Und die deutschen Studenten, froh jeder Gelegenheit, reaktionäre Gesinnung bekunden zu können, rotteten sich folgsam an jeder Universität zusammen, holten Exemplare unserer Bücher aus den Buchhandlungen und marschierten unter wehenden Fahnen mit dieser Beute auf einen öffentlichen Platz. Dort wurden die Bücher entweder nach altem deutschem Brauch - Mittelalter war mit einemmal Trumpf geworden - an den Schandpfahl, an den öffentlichen Pranger genagelt - ich habe selbst ein solches mit einem Nagel durchbohrtes Exemplar eines meiner Bücher besessen, das ein befreundeter Student nach der Exekution gerettet und mir zum Geschenk gemacht -, oder sie wurden, da es leider nicht erlaubt war, Menschen zu verbrennen, auf großen Scheiterhaufen unter Rezitierung patriotischer Sprüche zu Asche verbrannt. Zwar hatte nach langem Zögern der Propagandaminister Goebbels im letzten Augenblick beschlossen, der Bücherverbrennung seinen Segen zu geben, aber sie blieb noch immer eine halboffizielle Maßnahme, und nichts zeigt deutlicher, wie wenig sich Deutschland damals noch mit solchen Akten identifizierte, als daß das Publikum aus diesen studentischen Verbrennungen und Ächtungen nicht die geringsten Konsequenzen zog. Obwohl die Buchhändler ermahnt wurden, keines unserer Bücher in die Auslage zu legen und obwohl keine Zeitung mehr ihrer Erwähnung tat, ließ sich das wirkliche Publikum nicht im mindesten beeinflussen. Solange noch nicht Zuchthaus oder Konzentrationslager darauf stand, wurden meine Bücher noch 1933 und 1934 trotz allen Schwierigkeiten und Schikanen fast ebenso zahlreich wie vordem verkauft. Erst mußte jene grandiose Verordnung 'zum Schutz des deutschen Volkes' Gesetz werden, die Druck, Verkauf und Verbreitung unserer Bücher zum Staatsverbrechen erklärte, um uns gewaltsam den Hunderttausenden und Millionen Deutscher zu entfremden, die noch jetzt uns lieber als alle die plötzlich aufgeplusterten Blut- und Bodendichter lesen und in unserem Wirken treu begleiten wollten.

Dieses Schicksal völliger literarischer Existenzvernichtung in Deutschland mit so eminenten Zeitgenossen wie Thomas Mann, Heinrich Mann, Werfel, Freud und Einstein und manchen anderen, deren Werk ich ungleich wichtiger nehme als das meine, teilen zu dürfen, habe ich eher als Ehre empfunden denn als Schmach, und jedwede Märtyrergeste widerstrebt mir dermaßen, daß ich dieser Einbeziehung ins allgemeine Schicksal nur ungern Erwähnung tue. Aber seltsamerweise war es gerade mir beschieden, die Nationalsozialisten und sogar Adolf Hitler in persona in eine besonders peinliche Situation zu bringen. Just meine literarische Gestalt unter all den Geächteten ist in den hohen und höchsten Kreisen der Berchtesgadener Villa immer wieder Gegenstand der wildesten Erregung und endloser Debatten gewesen, so daß ich den erfreulichen Dingen meines Lebens die bescheidene Genugtuung beifügen kann, dem zeitweilig mächtigsten Manne der Neuzeit, Adolf Hitler, Ärgernis verursacht zu haben.

Schon in den ersten Tagen des neuen Regimes hatte ich unschuldigerweise eine Art Aufruhr verschuldet. Es lief nämlich damals durch ganz Deutschland ein Film, der nach meiner Novelle 'Brennendes Geheimnis' [Leipzig: Insel 1914, siehe Stefan Zweig: 'Die Kette', Reihe 'Gesamtausgabe des erzählerischen Werks', Band 1, Wien / Leipzig: Reichner 1936, online: dnb.de] verfaßt und ebenso betitelt war. Niemand nahm daran den geringsten Anstoß. Aber am Tage nach dem Brand des Reichstags, den vergeblich die Nationalsozialisten aus ihren Schuhen in die der Kommunisten zu schieben suchten, ereignete es sich, daß vor den Kinoüberschriften und Plakaten 'Brennendes Geheimnis' die Leute sich sammelten, einer den andern zwinkernd anstoßend und lachend. Bald verstanden die Gestapo-Leute, warum man bei diesem Titel lachte. Und noch am selben Abend jagten auf Motorrädern Polizisten herum, die Vorstellungen wurden verboten, vom nächsten Tage an war der Titel meiner Novelle 'Brennendes Geheimnis' aus allen Zeitungsankündigungen und von allen Plakatsäulen spurlos verschwunden. Aber ein einzelnes Wort, das sie störte, zu verbieten, ja selbst unsere gesamten Bücher zu verbrennen und zu zerstören, war immerhin eine ziemlich einfache Sache gewesen".

"In der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 nahm sich Stefan Zweig in Petrópolis in den Bergen etwa 50 Kilometer nordöstlich von Rio de Janeiro mit einer Überdosis Veronal das Leben" (Matthias Rüb: "Das Phantasma Brasilien. Die letzten Lebensmonate in Petrópolis verbrachte der Schriftsteller Stefan Zweig angeblich im Glück", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2017, S. 9).

 

In Kurt Wagenseil Bibliothek waren vorhanden: "Amok. Novellen einer Leidenschaft" (Leipzig: Insel 1928), "Ausgewählte Gedichte", "Brennendes Geheimnis" (Leipzig: Insel), "Der Kampf mit dem Dämon: Hölderlin, Kleist, Nietzsche" (Leipzig: Insel 1925), "Die Augen des ewigen Bruders" (zwei Ausgaben von Leipzig: Insel, eine von 1957), "Die Heilung durch den Geist: Mesmer, Mary Baker-Eddy, Freud" (Leipzig: Insel 1931), "Die Welt von gestern" (Berlin/Frankfurt: Suhrkamp 1944), "Fahrten. Landschaften und Städte" (Leipzig/Wien: Tal 1919), "Joseph Fouché. Bildnis eines politischen Menschen" (Wien: Bermann-Fischer 1950), "Magellan. Pioneer of the Pacific" (London/Toronto/Melbourne/Sydney: Cassel 1938), "Marie Antoinette" (Wien: Forum 1939), "Sternstunden der Menschheit. Fünf historische Miniaturen" (Leipzig: Insel [nach 1912]; und Berlin/Frankfurt: Suhrkamp 1949), "Tersites. Ein Trauerspiel in drei Aufzügen" (Leipzig: Insel 1907) und "Verwirrung der Gefühle" (Leipzig: Insel 1928).

 

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